Feuersuende
tun.“
„Dann gibt es eine Gottheit, die Anspruch auf sie erhebt.“
„So ist es“, antwortete Isis. „Osiris erhebt diesen Anspruch. Brynja wird die Seelen durch die zwölf Pforten führen. So steht es geschrieben.“
Lokan biss die Zähne zusammen und sah die Göttin unverwandt an. Als er wieder zu sprechen begann, klang seine Stimme tonlos und heiser. „Mein Vater bediente sich dunkler Magie, nur um für kurze Zeit menschliche Gestalt annehmen zu können. Er und seine Gefolgsleute haben mich bei lebendigem Leib gehäutet. Und bei keinem Messerschnitt habe ich auch nur eine Miene verzogen. Sie haben mir die Gliedmaßen vom Körper gehackt, einzeln, eine nach der anderen, und ich habe keinen einzigen Schrei von mir gegeben. Ich habe mir immernur ins Bewusstsein gerufen, dass ich mein Leben für etwas hergebe, das weit wichtiger ist.“ Für das Leben seiner Tochter. Er musste einen Moment innehalten, bevor er fortfahren konnte. „Ich habe niemals um etwas gebettelt oder gebeten. Ich wurde abgeschlachtet, und meine Seele wurde an einen grauenvollen Ort verbannt, in ein Niemandsland, die Todeszone. Und auch da hat man keine Bitten oder Gebete von mir gehört. Aber jetzt, o Isis …“, er sank, indem er weitersprach, langsam auf die Knie, „… jetzt bitte ich dich um etwas. Lass Bryn frei. Lass sie mich mit mir nehmen. Lass sie am Leben.“
Isis schwieg lange, so lange, dass er schon dachte, er würde keine Antwort von ihr erhalten. Als sie dann doch auf seine Bitten einging, waren ihre Worte voll Sanftmut – und Trauer. „Es steht nicht in meiner Macht, Lokan Krayl. Ich kann dir deine Geliebte nicht zurückgeben. Aber ich kann dir die Tochter zurückgeben, die ihr zusammen gezeugt habt. In ihr wirst du ihre Mutter wiederfinden. In ihr wirst du den Trost finden, wie ich in meinem Sohn Horus Trost gefunden habe, als mir Osiris genommen wurde.“
Genommen von Sutekh, Lokans Vater. Der Kreis des Schmerzes hatte sich geschlossen.
Isis’ Worte brachten ihn fast um den Verstand. Er sollte zurückkehren. Wieder sein, was er gewesen war. Ein Halbgott. Ein Seelensammler in den Reihen seines Vaters, seines Mörders. Unsterblich. Unbesiegbar. Aber Osiris behielt recht. Er würde nie wieder der werden, der er gewesen war, weil er ohne Bryn nicht mehr derselbe war – unvollständig, ein Krüppel.
Dass Bryn sich geopfert hatte, für ihn und für ihre Tochter. Es brachte ihn um, wenn er daran dachte, dass es keinen anderen Weg gegeben hatte.
„Warum glaubst du das von mir? Warum nimmst du an, dass ich der Einzige bin, der die Hyänen in Schach halten kann, der Einzige, der meinen Vater hindern kann, meiner Tochter das Leben zu nehmen und sie in die Todeszone zu schicken, wie er es mit mir getan hat?“
Isis musste lachen und schüttelte ungläubig den Kopf. „Weißt du das nicht? Weißt du es wirklich nicht?“
„Ob ich was weiß?“, knurrte er. „Verdammt noch mal, ich habe langsam die Nase voll von diesen ewigen Ausflüchten.“
„Dein ganzes Leben war eine – Ausflucht.“
„War . Vergangenheitsform.“
Sie trat auf ihn zu. Ihre Augen waren dunkel wie Onyx, ihr Haar wogte bei jeder Bewegung ebenso wie ihr durchsichtiges weißes Gewand. Sie war von unwirklicher Schönheit und Anmut. Und sie war weit freundlicher zu ihm, dem Sohn ihres Todfeindes, als er es rechtmäßig erwarten konnte. Sutekh hatte ihren Gemahl und Bruder Osiris in Stücke gehauen und ihr das Herz gebrochen. Tausend Mal hatte er diese Geschichte gehört, aber bis zu diesem Zeitpunkt hatte er nicht begriffen, was sie wirklich durchgemacht hatte.
Freundschaftlich sachte legte sie ihm die Hand auf die Schulter. „Nimm es hin. Trauere. Wenn du dagegen ankämpfst, bereitet es dir nur Schmerz. Du hast eine Tochter, für die du da bist.“
Lokan blickte zu ihr auf. Seine Kehle war wie ausgedörrt. Tränen. Er wollte weinen. Er wollte irgendetwas haben, das er zertrümmern, zu Brei schlagen konnte. Nicht sie – irgendetwas. Irgendjemanden. Seinen Vater zum Beispiel. Am Ende war er, Sutekh, es doch, der für all das verantwortlich war.
„Ich kann nicht zu ihm zurückkehren. Ich kann nicht wieder sein Abgesandter sein. Oder Seelen holen und zu ihm bringen, damit er sich daran satt frisst. Was also soll jetzt geschehen? Gibt es überhaupt eine andere Möglichkeit für mich?“
Sie sah ihn lange an. Eine Ewigkeit schien der Blick ihn festzuhalten, und er wartete. Er wartete darauf, dass sie etwas Entscheidendes, Richtungsweisendes
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