Feuertanz
das dort auf einem Brett lag. Sie trug schwarze Baggy-Jeans und einen engen, türkisfarbenen Pullover, der so weit ausgeschnitten war, dass er ihr über die Schultern rutschte. Darunter hatte sie ein schwarzes Unterhemd. Zwischen den Schulterblättern war sie tätowiert. Sie hatte kein Make-up aufgelegt. Ihr schwarz gefärbtes Haar ließ ihr Gesicht bleich und etwas verquollen erscheinen. Eine Braue und die Nase waren gepierct. Mit schleppenden Schritten schlurfte sie zum Kühlschrank und nahm ein Glas mit Olivenpaste heraus. Als linientreue Veganerin aß sie weder Butter noch andere Arten von Brotaufstrich tierischen Ursprungs. Die Brötchen waren mit Öl und Wasser im Teig gebacken, keinesfalls mit Milch. Darin war sich Jenny vollkommen sicher, denn sie hatte sie selbst gemacht.
Plötzlich hatte Irene das Gefühl, alles sei zu spät. Ihre Töchter führten ein eigenes Leben, und sie konnte sie nicht mehr beeinflussen. So viel konnte schief gehen, wenn ein junger Mensch in die Welt zog und seine Identität suchte.
Irene verspürte den Drang, ihre Töchter anzuflehen: »Liebste Katarina, mach einen Bogen um Marcelo. Er wird dich verlassen, und dann bist du nur verletzt und traurig. Und Jenny, versuch doch, wie das gesunde junge Mädchen auszusehen, das du bist, und nicht wie ein verlebter Popstar!« Aber sie wusste, dass sie das nie sagen würde. Die Mädchen waren alt genug, um selber zu entscheiden. Und wenn sie einen Irrtum begingen, würden sie hoffentlich daraus lernen. Schließlich lernte man aus den eigenen Fehlern und nicht aus denen anderer.
»Kommt ihr mit in die Stadt zum Einkaufen?«, fragte Irene.
Jenny schüttelte nur den Kopf.
»Ich komme mit. Ich brauche ein Paar gute Tanzschuhe«, sagte Katarina.
»Du fährst ja wirklich voll auf dieses Latinozeug ab«, stellte Jenny fest und sah ihre Schwester verächtlich an.
»Si! Si!« Katarina lachte und tanzte durch die Küchentür. Nach ihren rotierenden Hüftbewegungen zu urteilen handelte es sich um Salsaschritte.
Jenny verdrehte die Augen und seufzte: »Wirklich abartig.«
Sie ließ sich auf den Stuhl fallen und goss sich eine Tasse Tee ein.
»Warum bist du schon so früh auf?«, wollte Irene wissen.
»Ich muss büffeln. Am Dienstag ist Klausur. Außerdem muss ich ein Exposé für meine Projektarbeit schreiben.«
»Welches Thema hast du gewählt?«
»Plattenaufnahme.«
»Plattenaufnahme?«, wiederholte Irene.
»Ja. Polo nimmt eine Demo-CD auf. Ich habe vor, alles auf Video und mit dem Fotoapparat festzuhalten. Und dann will ich auch darüber schreiben. Das wird eine Art Dokumentation des gesamten Ablaufs, angefangen mit dem Schreiben der Songs bis zur fertigen CD. Aber die meisten Songs sind bereits fertig.«
»Das ist eine ausgezeichnete Idee!«, fand Irene aufrichtig.
»Tja … es soll ja auch gut werden«, sagte Jenny und lächelte verschmitzt.
Einen Augenblick lang sah sie aus wie die freche Fünfjährige, die sie einmal gewesen war. Irene wurde warm ums Herz. Ihre tüchtigen, eigensinnigen, einfallsreichen, schönen und … wunderbaren Töchter! Sie stand auf, umarmte Jenny und küsste sie auf die Stirn.
»Das hast du von mir«, meinte sie.
Es wurde ein hektischer Vormittag in der Stadt. Irene und Katarina waren in unzähligen Läden, tranken eine Tasse Kaffee im Stehen bei Mauritz und eilten dann weiter. Irene war gestresst, da sie das Training am Nachmittag nicht verpassen wollte. Sicherheitshalber hatte sie die Tasche mit ihren Sportsachen in den Kofferraum gelegt. Das erwies sich als kluge Strategie. Nachdem sie alle Einkäufe erledigt hatten, bestätigte ihr ein Blick auf die Uhr, dass sie es vor dem Training nicht mehr nach Hause schaffen würde.
»Kein Problem. Ich nehme den Expressbus vom Drottningtorget. Du hast ja alle Tüten im Auto, ich brauche also nichts zu tragen.«
»Ist das auch wirklich in Ordnung? Ich meine …«
»Aber sicher.«
Katarina stieg aus dem Auto, winkte fröhlich und verschwand in der Menge vor dem Eingang des Einkaufszentrums Nordstan. Irene hatte ein etwas schlechtes Gewissen, war aber gleichzeitig erleichtert. Jetzt würde sie es mühelos rechtzeitig zum Dojo schaffen. Allerdings hatte sie keine Gelegenheit gefunden, sich mit Katarina über deren tanzbegeisterten neuen Freund zu unterhalten. Obwohl er noch kein richtiger Freund war, bereitete er ihr bereits jetzt beträchtliche Sorgen.
Irene seufzte laut und drehte das Autoradio lauter. »Angie« von den Rolling Stones dröhnte aus den
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