Feurige Schatten - Carriger, G: Feurige Schatten - Heartless (04)
den Jungen zu verletzen. Die moderne Wissenschaft hatte bisher noch keine Waffe entdeckt, vom Sonnenlicht einmal abgesehen, die einen Vampir verletzte, ohne auch einem Menschen zu schaden. Einer der Tentakel, der bereits mit tödlicher Gewalt auf die Vampirkönigin zugeschossen war, zuckte im letzten Moment zur Seite und landete mit einem Krachen auf dem beladenen Teewagen, der das Chaos bis zu diesem Augenblick unbeschadet überstanden hatte. Er zerbrach unter dem Hieb in zwei Hälften, und feinstes Porzellan, Siruptorte und Sandwiches wurden in alle Richtungen geschleudert.
Soweit es Alexia betraf, war das der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Das ungeborene Ungemach in ihr schlug einen ermutigenden Trommelwirbel, während sie nach vorn marschierte und mit ihrem Sonnenschirm und aller Kraft auf den Metalltentakel einschlug. »Genevieve! Nicht die Siruptörtchen!«
Zack, zack, zack. Doing!
Natürlich war das eine vergebliche Anstrengung, aber zumindest fühlte sich Alexia dadurch besser.
Die Spitze des Tentakels klappte auf, eine Röhre schoss daraus hervor und wurde zu einem Megafon, wie es Zirkusdirektoren in der Manege zum Einsatz brachten. Der Oktomat hob es an einen seiner Augenschlitze, und Madame Lefoux sprach hinein.
Oder zumindest klang es wie Madame Lefoux. Es war merkwürdig, ihre mit leichtem Akzent gefärbte, kultivierte, sanfte weibliche Stimme zu vernehmen, wie sie aus einer so großen, bauchigen Kreatur kam. »Geben Sie mir meinen Sohn, dann lasse ich Sie in Frieden, Countess!«
»Maman!«, schrie Quesnel den Oktomaten an, als er begriff, dass es seine Mutter war und kein albtraumartiges Monster, das gekommen war, um ihn zu holen, und er begann in den Armen der Vampirkönigin zu zappeln. Was allerdings absolut nichts fruchtete, da sie viel stärker war, als er je sein würde. Die Countess drückte den Jungen nur noch fester an sich.
Quesnel begann auf Französisch zu schreien. »Hör auf, Maman! Sie haben mir nichts getan, es geht mir gut! Sie waren sehr nett zu mir! Sie geben mir Süßigkeiten!« Das Gesicht mit dem spitzen Kinn zeigte Entschlossenheit, und seine Stimme klang gebieterisch.
Madame Lefoux sagte nichts mehr. Es war offensichtlich, dass die Situation festgefahren war. Die Countess würde den Jungen nicht gehen lassen, und Madame Lefoux würde sie nicht entkommen lassen.
Alexia rückte langsam näher an ihre Schwester heran, da sie spürte, dass die Königin bald keine Wahl mehr haben würde, als ihr Heil in der Flucht zu suchen. Felicity in diesem Gebäude zurückzulassen hätte Alexia eine Menge Ärger mit ihrer Mutter eingehandelt.
Das Haus schwankte in seinen Grundfesten. Über die Hälfte davon war nicht mehr vorhanden, nur der hintere Teil stand noch, doch da war nur noch sehr wenig, das ihn hielt. Die tragenden Strukturen versagten allmählich.
Alexia watschelte näher zu der Vampirkönigin, wobei sie sorgfältig darauf achtete, sie nicht zu berühren. »Countess, ich weiß, Sie sagten, praktische Überlegungen hätten nichts damit zu tun, aber jetzt wäre wirklich ein sehr guter Zeitpunkt, um zu schwärmen, und ich bitte sie inständig, es wenigstens zu versuchen.«
Die Countess sah Alexia an, und das mit Augen, die vor Angst schwarz waren. Sie zog die Lippen zu einem Wutschrei zurück und entblößte dabei alle vier Fangzähne. Zwei dienten zum Bluttrinken, das andere Paar hatte nur eine Königin, weil man damit neue Vampire erschaffen konnte. Alexia sah nur noch sehr wenig Vernunft oder Logik im Gesicht dieser Frau. Offenbar erging es Vampiren, wenn sie am Ende ihres Weges angelangt waren, wie Werwölfen, und sie wurden zu allein vom Instinkt geleiteten Geschöpfen.
Lady Maccon war normalerweise keine unentschlossene Person, aber in dieser Sekunde fragte sie sich, ob sie sich in dieser kleinen Schlacht womöglich für die falsche Seite entschieden hatte. Madame Lefoux war zwar in einem höchst illegalen und zudem noch zerstörerischen Amoklauf durch London gezogen, doch die Countess benahm sich wie eine schändliche Kindsdiebin. Alexia wusste, dass sie das hier beenden konnte. Sie brauchte nur die Hand auszustrecken und die Vampirin zu berühren, wodurch sie menschlich und völlig verletzlich wurde und auch nicht mehr in der Lage wäre, den sich heftig windenden Quesnel zu halten.
Doch Alexia zögerte. Noch schlimmer als der Tod einer Vampirkönigin durch die Hand einer Wissenschaftlerin war ihr Tod durch die Hand von Lady Maccon, einer Seelenlosen,
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