Fey 01: Die Felsenwächter
viel Wein und gutem Essen. Seit er Ältester geworden war, hatte sich sein Körperumfang verdoppelt. »Ihr dürft nicht ständig hierherkommen. Die Daniten können genauso gut die Toten segnen wie Ihr.«
Der Rocaan schüttelte den Kopf. »Wegen meiner Sünden mußten diese Menschen sterben. Dazu können sich die Daniten nicht bekennen.«
»Wie könnt Ihr gesündigt haben?« Porcilunas Tonfall war respektlos. »Ihr habt doch die Fey nicht auf die Blaue Insel eingeladen.«
»Laßt ihn in Ruhe«, mischte sich Andre ein. Er nahm den Rocaan beim Arm und führte ihn über den sumpfigen Boden. Die Luft roch nach Lehm und dem Tang des Cardidas. »Der Heilige Herr weiß mehr über die Gedanken Gottes als jeder von uns. Wenn er das Gefühl hat, daran schuld zu sein, daß dieser Fluch über uns gekommen ist, dann glaube ich ihm und setze alles daran, ihm zu helfen, einen Weg zu finden, um ihn wieder zu bannen.«
»Ihr behauptet, der Heilige Herr ist ein Sünder? Das ist Blasphemie in den Ohren Gottes.« Porciluna unterbrach seine Worte durch heftiges Keuchen, während er versuchte, mit ihnen Schritt zu halten.
»Es ist Blasphemie, im Angesicht des Todes zu streiten«, unterbrach ihn der Rocaan. »Und der Älteste Andre hat nur gesagt, daß er mir glaubt, anders als der Rest von Euch.«
»Dank Euch, Heiliger Herr«, sagte Andre. Er half dem Rocaan die Stufen hinunter, die zur Straße führten. Ihre Kutsche wartete schon, ein großes, schwarzes Gefährt, dessen drei Seitenwände mit kleinen Schwertern verziert waren. Als der Kutscher den Rocaan erblickte, griff er zu den Zügeln. Das Gespann, zwei fast wie Zwillinge aussehende schwarze Pferde, scharrte ungeduldig mit den Hufen.
Porciluna öffnete die Tür, und der Rocaan kletterte hinein. Er setzte sich hinter den Kutscher und streckte die Beine aus. Er war so erschöpft, daß er fast zusammengebrochen wäre. Porciluna und Andre setzten sich ihm gegenüber.
»Heiliger Herr«, sagte Porciluna überrascht. »Ihr habt Euer Schwert am Grab vergessen.«
»Dort ist sein Platz«, antwortete der Rocaan. Um den Ort zu bezeichnen, an dem die Seelen der Toten aufgenommen wurden. Den Schauplatz des Verbrechens. Seine Schuld.
»Wir sollten den Kutscher danach schicken. Sonst nehmen es die Totengräber noch mit.«
Der Rocaan beugte sich vor. »Porciluna, Ihr habt kein Vertrauen in die Menschen.«
»Im Gegenteil, ich habe zuviel davon«, entgegnete Porciluna.
»Wir sollen von anderen stets das Beste annehmen, nicht das Schlechteste.«
Porciluna wurde flammend rot. »In diesem Jahr, das hinter uns liegt, habe ich das Schlechteste gesehen, das die Welt überhaupt zu bieten hat.«
»Und das Beste«, ergänzte der Rocaan. »Denn es gibt ebenso viele Geschichten über die Gnade wie über das Entsetzen zu erzählen. Habt Vertrauen. Nicht nur in den Roca, sondern in die Blaue Insel selbst.«
»Das ist schwer, Heiliger Herr«, wandte Porciluna ein. »Denn ich erkenne unsere Blaue Insel nicht wieder.«
»Keiner von uns erkennt sie wieder«, sagte der Rocaan. »Aber das Unheil sollte uns näher zusammenbringen, statt uns zu trennen. Und es ist die Pflicht der Kirche, die Einheit zu bewahren.«
Schon als er die Worte aussprach, versetzte es ihm einen Stich. Dadurch, daß er das Weihwasser zu einer Waffe, einem Werkzeug der Vernichtung gemacht hatte, hatte er die Kirche jeder Möglichkeit beraubt, in dieser Krise eine wohltätige Rolle zu spielen.
Selbst die Ältesten schienen die Mission des Rocaanismus vergessen zu haben. Es war an der Zeit, daß er die Dinge wieder selbst ins Lot brachte.
37
Mitten im Schattenland saß Rugar auf dem Versammlungsblock. Aus allen vier Himmelsrichtungen hallten die Schläge der Holzfäller. Drei Wochen hatten seine Leute gebraucht, um den besten Standort für ein zweites, größeres Schattenland zu finden, und es hatte eine weitere Woche gedauert, bis er selbst das Schattenland soweit entworfen hatte, daß jemand einziehen konnte. Die Schlacht von Jahn hatte ihn erschöpft, und auch die anschließenden Scharmützel trugen nicht zu seiner Genesung bei.
Immerhin war dieses Schattenland ein idealer Platz für einen Militärstützpunkt. Rugar hatte nur wenig Zeit darauf verschwendet, die Ränder des alten Schattenlandes zu reparieren oder zu überprüfen, ob die Schiffe miteinander verbunden waren. Die Schiffe blieben im ersten Schattenland, im Hafen von Jahn. Dieses neue Schattenland befand sich außerhalb von Jahn, unweit einiger verlassener
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