Fey 01: Die Felsenwächter
Lippen öffneten sich leicht, und sie hatte wieder denselben gequälten Gesichtsausdruck wie vorhin. »Sag es noch einmal in deiner Sprache«, sagte sie leise, als wäre sie allein mit Nicholas und bäte um zärtliche Liebesworte.
Er wiederholte die Worte ebenso leise in der Sprache der Inselbewohner. Tränen stiegen in ihre Augen, aber sie wandte den Blick nicht von ihm.
Der schlanke Fey, der Nicholas festhielt, sagte etwas in einer Sprache, die Nicholas nicht verstand. Die Frau winkte kurz ab und antwortete ihm dann in derselben Sprache, ohne den Blick von Nicholas zu wenden.
»Wer bist du?« fragte sie schließlich auf Nye.
»Spielt das eine Rolle?« erwiderte Nicholas. Die Meinungsverschiedenheit zwischen den beiden Fey erfüllte ihn mit Panik. »Du wirst mich ohnehin töten.«
Sie schüttelte den Kopf und wischte dann mit ihrem Daumen das Blut von seinem Hals. Ihre Haut war warm und rauh. »Nein«, sagte sie. »Das werde ich nicht tun.«
Die plötzliche Zärtlichkeit verwirrte ihn. Er blickte auf den Fey, der ihn noch immer festhielt, und sah die Wut in seinen Augen. Nicholas’ eigene Leute beobachteten alles. Sie rührten sich nicht. Die Menge war inzwischen immer weiter angewachsen. Nur noch in der Nähe der Küchentür wurde gekämpft, sonst war alles still. Die Schlachtrufe kamen jetzt aus dem Hof.
Der Bäcker schob sich unauffällig durch die Menge und drängte langsam zur Tür der Anrichte. Nicholas verstand, was er vorhatte. Er würde versuchen, Hilfe zu holen.
Auch die Fey-Frau ließ den Blick jetzt über die Versammlung wandern und schaute dann wieder Nicholas an. »Ich kann jeden hier so lange foltern lassen, bis er mir deinen Namen sagt.«
»Nein«, sagte Nicholas und ahmte dabei ihren Tonfall nach. »Das wirst du nicht tun.«
»So viel Mut bei einem Mann in einer so ausweglosen Lage. Wenn ich dich töte«, und bei diesen Worten riß sie ihr Messer wieder aus dem Gürtel und setzte es so blitzschnell an seine Kehle, daß er sie auch mit ungefesselten Händen nicht hätte daran hindern können, »würden sie etwas Kostbares verlieren.«
Den Dienern, blutbesudelt und müde vom Kampf, stand das schiere Entsetzen ins Gesicht geschrieben.
Sie stand so dicht vor ihm, daß er ihre Brüste spürte, die sich gegen seinen Brustkasten preßten. »Ich halte deine Leute in Schach, wenn ich dich bedrohe.« Sie lächelte kalt. »Du verleihst mir so viel Macht, daß ich dich behalten werde.«
Sie drehte sich zu den hinter ihr stehenden Fey um. »Bereitet alles hier für ein improvisiertes Gefängnis vor und entwaffnet diese erbärmlichen Leute.« Sie begannen sofort mit der Ausführung ihrer Befehle. »Sag deinen Leuten, daß ich dich töten werde, wenn sie weiter gegen uns kämpfen.«
Nicholas schwieg.
Sie packte sein blutbeflecktes Hemd und zog ihn noch dichter an sich heran. »Los, sag’s ihnen.« Der Kragen schnitt in seinen Nacken. Er nickte. Sie trat zurück, damit er jeden in der Küche deutlich sehen konnte. Von den Küchenjungen, die die Herde säuberten, bis zu den Frauen, die die Speisen reichten, starrten ihn alle Bediensteten mit weit aufgerissenen Augen an.
»Meine Freunde«, sagte er in der Sprache der Inselbewohner. »Es ist gleichgültig, was mit mir geschieht. Nur die Blaue Insel zählt. Tötet die Angreifer. Tötet sie alle.«
Einen Moment lang standen die Inselbewohner reglos da. Dann warfen sie sich wie ein Mann nach vorne und fielen die überraschten Fey an. Messer bohrten sich in die Rücken der Eindringlinge, Schmerzenslaute ertönten, als die Schädel der Angreifer zertrümmert wurden. Von der anderen Seite des Raumes ertönten gellende Schreie, als eine ältere Frau einen Fey ins Herdfeuer stieß.
Die Frau packte Nicholas, ihr Messer lag jetzt wieder dicht an seinem Hals. »Was hast du zu ihnen gesagt?«
»Das dürfte doch nicht so schwer zu erraten sein«, erwiderte er.
19
Rugar strich sich mit der schmutzigen Hand über das verklebte Haar und holte tief Luft. Er eilte auf den wenigen trockenen Flecken des schlammigen Weges in Richtung Hauptstraße. Caseo, Rusty und Eisenfaust folgten ihm auf dem Fuße. Noch bevor Rugar die Straße erreicht hatte, bot sich ihm ein Anblick, der seine schlimmsten Befürchtungen bestätigte.
Die Fey stürzten Hals über Kopf davon, ohne dabei einen Gedanken an körperliche Anmut zu verschwenden. Sie hatten die Waffen gesenkt, und jeder lief für sich allein; der Truppenverband hatte sich völlig aufgelöst. Zweifellos waren
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