Fey 01: Die Felsenwächter
wußten, wodurch diese sonderbaren Verletzungen hervorgerufen wurden.
Als sie am Hafen ankamen, war der Geruch schwächer geworden. Der beißende Rauch war verweht, nichts war mehr zu sehen als die weißen Gebäude, errichtet von einem Volk, das durch den Seehandel wohlhabend geworden war. Das Sonnenlicht brach sich glitzernd auf den Wellen des breiten Cardidas, und die Leichen lagen verstreut wie Kinderspielzeug auf dem schlammigen Boden.
Rugar stieß einen Schrei aus und trat näher. Er hatte schon auf zahllosen Schlachtfeldern zwischen den Toten gestanden, aber es waren niemals seine eigenen Toten gewesen. Sicher, auch er hatte hier und da ein paar Männer verloren, aber es waren noch niemals so viele gewesen, und noch nie waren sie auf so gräßliche Weise gestorben. Ein Hüter, nur noch an seinem Umhang zu erkennen, lag unten an der Rampe des Lagerhauses. Drei Fußsoldaten, deren Gesichter völlig unkenntlich und deren Hände mit ihren Oberkörpern verschmolzen waren, zuckten direkt vor seinen Füßen nebeneinander im Todeskampf. Sie waren am Ersticken, soviel hatte er verstanden, aber erst jetzt wurde ihm klar, was dies für ein langsamer, qualvoller Tod war. Sie hatten keine Nasenlöcher und keinen Mund mehr, und es gab keine Hinweise auf ihre einstige Identität. Doch er war kein Heiler. Er wußte nicht, wie er sie retten sollte.
Unter den Niedergemetzelten war keine schwarze Robe zu sehen, nur eine goldfarbene Katze strich zwischen den Leichen herum und blieb gelegentlich stehen, um mit der Pfote die menschlichen Überreste zu berühren. Eisenfaust hatte seinen Platz neben Rugar verlassen und schritt zwischen den Sterbenden hindurch. Er blieb neben einer zitternden Frau stehen und wölbte seine Hände über ihrem Gesicht, als hätte er Angst, sie zu berühren. Endlich rührte sie sich nicht mehr, und er sackte mit gekrümmten Schultern neben ihr zusammen wie nach einer schweren Niederlage.
»Diese Inselbewohner verfügen über einen großen Zauber.« Seine Stimme schwankte ungläubig. Zum ersten Mal begegneten sie Wesen, die dieselben oder sogar noch weiter entwickelte Fähigkeiten besaßen wie ihr eigenes Volk.
»Vielleicht sind es Fey.«
Rugar wirbelte herum. Wo gerade noch die Katze gesessen hatte, stand jetzt Solanda. Die Haut rings um ihre Augen lockerte sich gerade in den letzten Zuckungen der Verwandlung. Sie war nackt, Hände und Füße waren mit Schlamm bedeckt.
»Was hast du gesehen?« fragte er auf der verzweifelten Suche nach irgendeinem Anhaltspunkt. Falls sie Fey waren, so gab es vielleicht einen alten Gegenzauber, eine Art Rache.
»Ich sah, wie sie mit ihrer magischen Flüssigkeit töteten«, sagte Solanda, und ihre Stimme war so sanft wie ein Schnurren. »Wir töten auf viele verschiedene Arten, mit unseren Händen, unserem Geist, unseren Messern. Vielleicht verfügen sie über dieselben Kräfte.«
»Davon haben die Nye nichts gesagt.«
»Hast du schon jemals einem eroberten Volk Glauben geschenkt?« Ihre Worte hingen in der Luft. Sie legte die Hand auf ihre schlanke Hüfte, und ihre Augen waren so undurchdringlich wie die einer Katze. »Sie hatten mehr als einen Grund, uns anzulügen.«
Rugar hatte sich nicht allein auf die Erzählungen der Nye verlassen. Seine Leute hatten die Geschichtsbücher studiert, den Legenden gelauscht. Aber niemand hatte damit gerechnet, daß sich die Inselbewohner magischer Kräfte bedienten.
Nur diejenigen mit den unheilverkündenden Visionen hatten den Verdacht geäußert, daß Rugar womöglich einen Fehler beginge.
Als er das Stöhnen ringsum hörte, stellten sich seine Nackenhaare auf. »Was hast du gesehen?« wiederholte er.
»Zuerst habe ich nur ein paar von diesen kleinen, übelriechenden Männern gesehen«, sagte Solanda. »Dann verwandelte ich mich und suchte mir ein Versteck. Von diesem Versteck aus habe ich noch mehr gesehen. Dieses Gift tötet.« Sie warf einen Blick auf den Soldaten neben sich. Zwei schlanke, vollendet geformte Hände zogen schwach an der weichen Haut, dort, wo sich vorher das Gesicht befunden hatte. »Gestaltwandler sind ihnen unbekannt, ich habe einen von ihnen zu Tode erschreckt, als ich mich direkt vor seinen Augen wandelte. Anscheinend haben sie auch keine Frauen.«
Diese beiden Beobachtungen hielt Rugar für unwichtig. Das einzige, was ihn zufriedenstellen konnte, war eine Lösung, die diesem Alptraum hier auf der Stelle ein Ende bereitete.
»Ich habe etwas, das dich interessieren könnte«, sagte Solanda.
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