Fey 07: Die Augen des Roca
hat.«
»Sie?« fragte Gabe. Er kannte keine Frau, der er vertraute.
Außer Leen.
Aber Leen war bereits hier.
»Bitte laß mich ausreden, Gabe«, fuhr seine Mutter fort. »Wir haben die Magie bereits angetastet. Also können wir ebensogut damit fortfahren.«
»Du bist also ein Mysterium«, wiederholte Gabe.
Fledderer blickte Gabe scharf an. Sein kleines Gesicht rötete sich, und dann starrte er an der Stelle, wo Gabes Mutter stand, in die Luft, als könnte er sie durch bloße Willenskraft sichtbar machen.
»Ja«, bestätigte sie.
»Warum du?« fragte Gabe. »Warum nicht meine richtigen Eltern, Niche und Wind?«
»Sie sind nicht deine richtigen Eltern«, entgegnete sie.
»Sie haben mich aufgezogen.« Er hatte sie nicht anschreien wollen, aber die Worte platzten aus ihm heraus. Sie hallten von den Höhlenwänden wider und klangen in seinen Ohren nach.
Sie (sie)…
Haben (haben) …
Mich (mich) …
Aufgezogen (aufgezogen) …
Seine Mutter nickte und wich seinem Blick aus. »Stimmt«, murmelte sie.
»Du wußtest doch nicht einmal, daß ich entführt worden war«, fuhr Gabe fort.
»O doch«, versicherte sie. »Ich habe es bloß nicht verstanden.«
Fledderer war noch ein Stück näher getreten. Er streckte die Hand nach der Stelle in der Luft aus, wo sich Gabes Mutter befand, aber Leen hielt ihn zurück.
»Laß sie reden«, zischte sie.
Offenbar glaubte wenigstens sie jetzt, daß Gabe jemanden sah. Vielleicht ahnte sie sogar, wen.
»Ein schwacher Trost«, murmelte Gabe.
»Du warst so ein aufgewecktes Kind«, sprach seine Mutter unbeirrt weiter. »Und dann, eines Tages, warst du völlig verändert. Ich dachte zuerst, es läge an mir. Ich glaubte, ich hätte die falsche Wahl getroffen, und die Überlieferung hätte unrecht. Sie besagt, daß Feyblut gemischt mit fremdem Blut besonders begabte Kinder ergibt, weil fremdes Blut die Magie stärkt. Ich nahm an, daß es mit Inselbewohnern eben nicht funktionierte.«
»Aber es hat funktioniert«, sagte Gabe. All dieses Gesäusel über seine erstaunliche Begabung, als er ein Kind war. Die Fähigkeit seiner Schwester, sich so mühelos zu Verwandeln. Gabe erinnerte sich immer noch daran, wie sie in ihrer Vogelgestalt über ihm flatterte, die blauen Knopfaugen starr auf ihn geheftet. An jenem Tag hatte sie ihn umbringen wollen. Es wäre ihr auch gelungen, wenn die anderen Fey sie nicht rechtzeitig daran gehindert hätten.
»Aber das wußte ich damals noch nicht. Ich habe so viel riskiert …« Sie hob die Hand, als wäre ihr versehentlich etwas herausgerutscht, was sie lieber verschwiegen hätte. »Das war ein anderes Leben.«
»Jetzt hast du es ja hinter dir«, erwiderte Gabe, unfähig, den Spott zu unterdrücken.
Seine Mutter schüttelte den Kopf, als könne sie nicht glauben, was sie hörte. »Nein«, erwiderte sie. »Ich habe mit jenem Leben noch nicht abgeschlossen. Das ist auch einer der Gründe, weswegen ich hier bin.«
»Ach ja?« fragte Gabe. »Und meine Eltern? Haben sie mit ihrem Leben abgeschlossen?«
»Darüber weiß ich nichts«, gab sie zurück. »Ich habe sie nie gesehen. Nicht jeder Fey wird ein Mysterium.«
»Manche werden auch Mächte?« fragte Gabe.
Sie legte ihm die Hand auf den Mund. Ihre Finger waren kühl, aber nicht zu kühl. Wüßte er es nicht besser, hätte er sie für lebendig gehalten.
»Sprich nicht so über Dinge, die du nicht verstehst«, tadelte sie.
Offenbar wartete sie auf seine Zustimmung. Als er nickte, zog sie die Hand weg.
»Nicht jeder Fey hat ein Mysterium, und nicht jeder Fey wird zu einem. Manche Fey haben viele Mysterien, und jedes Mysterium beschützt mehr als einen Fey«, erklärte sie. »Ein Mysterium kann dem Menschen, den es am meisten liebt, und dem, den es am meisten haßt, erscheinen. Dann dürfen wir uns noch ein anderes, lebendes Wesen auswählen. Ich habe dich gewählt.«
»Also gilt nicht mir deine größte Liebe«, sagte Gabe.
Sie lächelte, als ärgere sie sich kein bißchen über seine Bemerkung. »Und auch nicht mein größter Haß.«
Sie mochte das lustig finden, aber Gabe war gekränkt. Tief in seinem Inneren verletzte es ihn, daß er für seine Mutter nicht der wichtigste Mensch war, auch wenn sie ihn gar nicht kannte.
Es tat weh.
»Warum hast du dann mich gewählt?« fragte er bemüht gleichgültig. Er selbst hörte seiner Stimme die Gekränktheit zwar an, aber seiner Mutter schien nichts aufzufallen.
Weil sie ihn eben nicht kannte.
Auch Leen hatte etwas gemerkt. Sie blickte Gabe
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