Fey 09: Die roten Klippen
erhob sich Shweet in die Luft und flog davon.
Licia beobachtete, wie er direkt auf den Paß zusteuerte, der ins Tal hinabführte, und erhob sich widerwillig.
Es war ein Trick von Shweet, damit sie sich endlich aufraffte. Denn sobald sie aufstand, konnte sie die Infanteristen, die mit vor die Gesichter geschlagenen Händen im Gras hockten, nicht länger übersehen, weder die Krieger, die sich fragten, was sie mitten im Sturmangriff aufgehalten hatte, noch die Leichtverwundeten, die sich über den Verlust ihrer Waffen wunderten.
Zwischen ihnen ging Ay’Le auf und ab und setzte ihre Zauberkraft endlich einmal für einen guten Zweck ein. Sie sprach mit jedem einzelnen und erinnerte ihn daran, daß er immer noch Soldat war. Vielleicht sollte Licia Ay’Le das Kommando über den nächsten Angriff übertragen. Licia konnte ja einen Plan entwerfen und Ay’Le die Durchführung überlassen.
Die Fey hatten den Befehl – den unmißverständlichen Befehl –, bis zum letzten Atemzug zu kämpfen. Licia lief es eiskalt den Rücken herunter. Aber das hieß nicht, daß sie sich sinnlos abschlachten lassen sollten. Sogar Rugad hätte unter den gegebenen Umständen zum Rückzug geblasen.
Allerdings hätte er unverzüglich einen zweiten, noch entschlosseneren Angriff geplant und sich auf jeden nur denkbaren Widerstand seitens der Inselbewohner vorbereitet.
Auch Licia mischte sich jetzt unter ihre Untergebenen. Sie wichen ihrem Blick aus und schienen sich ebenso zu schämen wie sie selbst. Licia hatte etwas Entscheidendes versäumt, nämlich eine anfängliche Niederlage in einen Sieg zu verwandeln. Denn sie wußte inzwischen, daß die Inselbewohner Fähigkeiten besaßen, die die Fey noch bei keinem anderen Volk angetroffen hatten.
Vielleicht sollte sie sich einfach vorstellen, die Inselbewohner seien ganz gewöhnliche Fey, die es zu besiegen galt. So hatte sie es bei den Versagern schließlich auch gemacht.
Ein Frösteln überlief sie, als sie sich daran erinnerte, wie schnell und unbarmherzig sie seinerzeit den Bewohnern des von Rugads Sohn errichteten Schattenlandes den Garaus gemacht hatten. Sie waren in das Schattenland eingedrungen und hatten die dort lebenden Fey, die zum größten Teil schon von Traumreitern außer Gefecht gesetzt worden waren, überrumpelt und niedergemetzelt. Diese Fey waren eines verhältnismäßig raschen Todes gestorben, und trotzdem war es Licia schwergefallen, ihre Gesichter zu betrachten.
Die Gesichter von Leuten, die sie gekannt hatte oder die sie hätte kennen können.
Zum dritten Mal lief ihr ein Schauder über den Rücken. Sie durfte nicht länger über Versager und Versagen nachdenken. Damit machte sie sich bloß selbst verrückt. Sie mußte sich ganz auf den bevorstehenden Sieg konzentrieren. Wie ein Sieg zustande kam, war Rugad egal, Hauptsache, es war ein Sieg.
Inzwischen hatte auch Licia den Paß erreicht. Shweet war immer noch in seiner Vogelgestalt. Er flog auf ihre Schulter und dirigierte sie mit leisen Lauten, fast wie ein Zwitschern, in die richtige Richtung.
An einem Felsen lehnte ein Mann, und davor standen zwei Pferdereiter. Einem der Pferdereiter, einer Frau, liefen Tränen über das Gesicht. Sie blickte den Mann flehentlich an, als bäte sie ihn um Trost.
Aber es sah nicht so aus, als könnte irgend jemand diesen Mann trösten. Er war blutüberströmt. Seine Stiefel waren zerfetzt, und durch die Risse im Leder konnte Licia seine nackten, ebenfalls blutenden Füße erkennen.
Seine langen, schmalen Hände waren nicht die eines Soldaten. Sein Gesicht dagegen war so sonnenverbrannt, daß sich die Haut auf seinen Wangenknochen schälte.
Aber das alles schien er gar nicht zu bemerken.
»Licia«, begann Shweet. »Das hier ist der Schreiber, der Boteen begleitet hat.«
Licias Herz machte einen Satz. Sie war sich nicht sicher, was diese Überraschung zu bedeuten hatte.
»Wie heißt er?«
»Das hat er uns noch nicht verraten. Du weißt doch, wie Schreiber sind. Sie wollen nicht, daß man sich an sie erinnert.«
Ja, mit Schreibern kannte Licia sich aus. Sie hatte ihnen nach vielen Schlachten Bericht erstattet, damit sie die Triumphe der Fey schriftlich festhielten. Sie wußte genau, wie man ihnen eine Geschichte erzählen mußte, denn ein Schreiber notierte jedes Wort, registrierte jeden Zweifel in der Stimme des Diktierenden und veränderte keine einzige Formulierung.
»Warum sollte ich dann herkommen?«
»Weil du dir anhören mußt, was er zu sagen hat«, erwiderte
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