Fey 10: Das Seelenglas
Das hoffte er jedenfalls. Gute Anführer konnte er immer brauchen. Ihr Plan, das Städtchen Constantia zu erobern, war klug und sehr erfolgversprechend. Die Veränderungen, die er eingebracht hatte, entsprachen seiner Kenntnis der Truppe, nicht des Geländes. Während er nun darüber hinwegflog, prägte er sich die Stellungen unter ihm ein.
Die Infanterie stand noch immer im Tal, aber die Tierreiter hatten ihre Positionen bereits eingenommen. Die Rattenreiter waren schon beim ersten Tageslicht auf Pfaden, die nicht einmal er entdecken konnte, bergab geeilt, um die Stadt zu infiltrieren. Die Vogelreiter – Adler, die wenigen Falken, die er nicht selbst benötigte, Möwen sowie einige andere – bauten sich provisorische Nester in Baumkronen und Felsnischen, um von dort aus zum verabredeten Zeitpunkt anzugreifen. Die Traumreiter schlichen zwischen den Felsen herum, wo ihre Silhouetten wie Schatten an einem sonnigen Tag aussahen. Am besten konnte sie Rugad von seinem Blickwinkel hoch über dem Fluß erkennen, von wo er ihre schwarzen Schemen über die Landschaft huschen sah. Er wußte jedoch, daß kein Inselbewohner sie bemerken würde. Und bei den wenigen Gelegenheiten, bei denen er Versager hatte töten lassen, hatten selbst die Fey sie nicht bemerkt.
Wenn die Fey sie nicht sahen, hatten die Inselbewohner schon gar keine Chance.
Die Fußsoldaten hatten sich bereits formiert, obwohl ihr Abmarsch noch lange nicht anstand. Sie waren unruhig. Rugad konnte den Blutdurst derjenigen, die bereits am letzten Angriff im Tal teilgenommen hatten, bis zu sich herauf riechen; sie waren wütend, weil sie nicht zum Zuge gekommen waren, und warteten ungeduldig auf das Signal zum neuen Angriff.
Er hatte Kendrad darüber informiert. Sie hatte genickt. Auch ihr war es aufgefallen. Ungeduldige Fußsoldaten warfen sich oft unvorsichtig und leichtsinnig in die Schlacht.
Die Falkenreiter zogen ihn in steilem Winkel nach oben. Die Strömungen vermengten sich mit dem Wind und schüttelten ihn hin und her. Sie hatten keine direkten Auswirkungen auf ihn, nicht so wie die magische Welle einige Tage zuvor, aber manchmal hatte es doch den Anschein, als könnten sie ihm etwas anhaben. Er hatte nicht vor, an diesem Ort ein Schattenland zu errichten, und wollte auch sonst die Gabe seiner Vision nicht anwenden. Zu viel Magie an diesem Ort bedeutete, sich mit etwas sehr Gefährlichem einzulassen, etwas, das so mächtig war, daß es sich womöglich selbst seiner Kontrolle entzog.
Die Reiter flogen jetzt parallel zum Gebirgszug. Er schaute nach unten. Sie flogen nach Osten, im immer gleichen Abstand zu den Bergen in Richtung Constantia, der Stadt in der nordwestlichsten Ecke der Insel.
Tief unter sich sah er den Steinbruch und ein verworrenes Netz von Fußpfaden. Je höher er stieg, desto schmaler und schlechter zu erkennen waren sie. Trotzdem erkannte er mehrere Rastplätze und auf einem von ihnen drei verstümmelte Leichname, die in der Sonne faulten. Aus der Entfernung konnte er sogar ihre groben Umrisse erkennen.
Es handelte sich um Threem, den Pferdereiter, Caw, die Möwenreiterin, und Boteen.
Rugad spürte, wie sich sein Magen zusammenzog.
Er zog mit dem verabredeten Signal an den Seilen. Die Falkenreiter überflogen das Gebiet noch einmal, diesmal jedoch niedriger, damit Rugad besser sehen konnte.
Noch etwas kam ihm an diesem Ort merkwürdig vor.
Der Schreiber hatte – mit endlosen Worten – den an einen Tempel erinnernden Ort beschrieben, an dem er sich versteckt hatte. Rugad sah die steinernen Säulen mit dem darauf liegenden flachen Stein. Der Schreiber hatte das Gebilde für eine Laune der Natur gehalten, aber Rugad war sich da nicht so sicher. Von hier oben aus sah es keineswegs so aus, als sei der flache Stein durch die Witterung entstanden. Er sah aus, als wäre er absichtlich dorthin gelegt worden.
Ein solches Unterfangen hatte enormer Kraftaufwendung bedurft, zudem vor einer so langen Zeit.
Aber nicht das kam ihm merkwürdig vor.
Das Merkwürdige waren die Brandflecken. Das Feuer hatte sich sonst nirgendwo ausgebreitet. Es schien sich ausnahmslos auf diesen Flecken beschränkt zu haben.
Das war kein natürliches Feuer gewesen.
Er fragte sich, ob Boteen das ebenfalls aufgefallen war, und wenn ja, was er daraus wohl geschlossen hatte. Vermutlich nichts. Boteen hatte irgendwo einen Fehler begangen, entweder als er in seiner geschwächten Verfassung den Berg bestiegen oder als er die Möglichkeiten seiner Gegenspieler
Weitere Kostenlose Bücher