Fieber
bedankte sich und legte auf. Sie wünschte sich, ebenso optimistisch wie Dr. Keitzman sein zu können. Aber das Gefühl, daß alles nur noch schlimmer wurde, hatte er ihr nicht nehmen können.
Eine halbe Stunde später hatte jeder das Notwendigste für ein paar Tage eingepackt. Noch immer voller Zweifel verließ Cathryn zusammen mit Gina und den beiden Jungen das Haus. Durch den neugefallenen Schnee trugen sie ihre Taschen zu dem alten Kombi und verstauten sie auf der Ladefläche. Jean Paul stieg am Haus eines Freundes, der ihn eingeladen hatte, aus. Die anderen drei fuhren weiter nach Boston. Keiner sprach ein Wort.
11. Kapitel
Kurz nach neun erreichte Charles das Kinderkrankenhaus. Im Gegensatz zu dem dichten Verkehr, der tagsüber vor dem Krankenhaus herrschte, waren die Straßen jetzt leer. Charles fand einen Parkplatz vor der Buchhandlung, die zu dem Klinikzentrum gehörte. Dann ging er durch den Haupteingang in das Krankenhaus. Ein leerer Fahrstuhl brachte ihn zu Station Anderson 6.
Jemand grüßte ihn, als er an der Schwesternstation vorbeikam. Aber Charles hob nicht einmal den Kopf in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war. Die Tür zu Michelles Zimmer stand einen Spalt weit offen. Charles schlüpfte leise hinein.
In Michelles Zimmer war es dunkler als auf dem Flur. Nur das kleine Nachtlicht, das kurz über dem Boden an der Mauer angebracht war, brannte noch. Charles blieb einen Moment stehen, um seine Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen. Auf der anderen Seite des Bettes stand der Herzmonitor. Der Signalton war leise gedreht worden, aber eine grün leuchtende Kurve zuckte mit regelmäßigen Ausschlägen über den kleinen Bildschirm. Zwei Infusionsschläuche schlängelten sich von einem Gestell hinter dem Kopfende des Bettes zu Michelle hinunter. Jeder endete in einem ihrer Arme. Durch die Kanüle imlinken Arm wurden ihr die chemotherapeutischen Medikamente zugeleitet.
Vorsichtig ging Charles weiter in das Zimmer hinein. Seine Augen waren fest auf das unbewegte Gesicht seiner Tochter gerichtet. Sie schien zu schlafen. Doch nach ein paar Schritten sah Charles zu seiner Überraschung, daß Michelles Augen gar nicht geschlossen waren. Sie verfolgten gespannt jede seiner Bewegungen.
»Michelle?« flüsterte Charles.
»Daddy?« fragte sie ebenso leise zurück. Sie hatte befürchtet, daß trotz der Nacht ein weiterer Pfleger zu ihr ins Zimmer geschlichen wäre, um ihr noch mehr Blut abzunehmen.
Charles hob seine Tochter zärtlich in seine Arme. Er hatte das Gefühl, daß sie viel leichter geworden war. Auch Michelle versuchte ihn zu umarmen. Doch fehlte ihr die Kraft dazu. Charles preßte seine Wange gegen ihr Gesicht und wiegte sie langsam hin und her. Er spürte die Hitze ihres Fiebers auf seiner Haut.
Dann sah er Michelle ins Gesicht und entdeckte, daß ihre Lippen vereitert waren.
Eine Verzweiflung, die sogar seine Tränen erstickte, durchflutete ihn. Das Leben war nicht fair. Es war eine einzige grausame Erfahrung, in der Hoffnung und Glück nur flüchtige Illusionen waren, die einzig dazu dienten, die unausweichliche Tragödie noch bitterer erscheinen zu lassen.
Während er Michelle in den Armen hielt, mußte er an seinen kläglichen Rachefeldzug gegen Recycle denken. Er kam sich jetzt selbst albern vor. Noch immer empfand er sein Verlangen nach Rache als gerecht, aber wie es stand, gab es wichtigere Dinge für ihn zu tun. Zweifellos war den Verantwortlichen bei Recycle das Schicksal eines zwölfjährigen Mädchens vollkommen gleichgültig, und bequem stellten sie sich blind gegen jedes Verantwortungsgefühl. Aber wie war es denn mit den sogenannten führenden Persönlichkeiten in der Krebsbekämpfung? Machten sie sich denn viele Gedanken? Charles bezweifelte das, wenn er an das verworrene Beziehungsgeflecht dachte, das an seinem eigenen Institut herrschte. Dabei wollte es die Ironie des Schicksals, daß für die Leute, die den gigantischen Apparat der Krebsbekämpfung lenkten, am Ende dasselbe Risiko bestand, der Krankheit zu erliegen, wie für den größten Teil der übrigen Menschen.
»Daddy, warum ist deine Nase so geschwollen?« fragte Michelle auf einmal.
Charles lächelte. Obwohl sie selbst so krank war, machte Michelle sich noch immer Sorgen um ihn! Es war einfach unglaublich!
Rasch erfand Charles eine Geschichte, wie er im Schnee ausgerutscht und ausgerechnet auf die Nase gefallen war. Michelle lachte, aber dann wurde ihr Gesicht wieder ernst. »Daddy, werde ich wieder
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