Fieber
sobald man beginnt, Ausnahmen davon zu machen, ist es, als hätte man die Büchse der Pandora geöffnet. Leider müssen wir uns deshalb auch mehr und mehr auf die Gerichte verlassen.«
»Aber es ist doch ganz eindeutig, daß die Chemotherapie Michelle nicht hilft«, entgegnete Charles beherrscht.
»Im Augenblick noch nicht«, gab Dr. Keitzman zu. »Aber für ein endgültiges Urteil ist es noch zu früh. Es besteht noch eine kleine Chance. Und außerdem haben wir nichts anderes, mit dem wir ihr helfen könnten.«
»Ich glaube, Sie belügen sich selbst«, sagte Charles heftig. Dr. Keitzman antwortete nicht. Es war ein Körnchen Wahrheit in dem, was Charles gesagt hatte. Die Vorstellung, einen Fall aufzugeben und nichts mehr zu tun, kam für Dr. Keitzman nicht in Frage, besonders nicht bei einem Kind.
»Eine ganz andere Sache wollte ich Sie noch fragen«, fuhr Charles fort. »Halten Sie es für möglich, daß Benzol Michelles Leukämie ausgelöst hat?«
»Das ist schon möglich«, antwortete Dr. Keitzman. »Zumindest würde das Krankheitsbild ihrer Leukämie dazu passen. Ist sie denn mit Benzol in Berührung gekommen?«
»Über einen längeren Zeitraum«, antwortete Charles. »Ein Betrieb hat Benzol in den Fluß geleitet, der auch unseren Teichspeist. Wären Sie bereit, in einem Gutachten festzuhalten, daß Michelles Leukämie von Benzol verursacht wurde?«
»Das kann ich nicht tun«, sagte Dr. Keitzman. »Es tut mir leid, aber das wäre ein reiner Indizienschluß. Außerdem ist der eindeutige Nachweis, daß Benzol Leukämie verursacht, bisher nur in Laborversuchen und nur bei Tieren gelungen.«
»Und Sie und ich wissen genau, daß es damit auch als Krebserreger beim Menschen anzusehen ist.«
»Das mag durchaus richtig sein. Aber ein ordentliches Gericht wird Ihnen diesen Schluß nicht als Beweis abnehmen. Es bleibt ein Rest an Zweifel, wie klein er auch sein mag.«
»Sie wollen mir also nicht helfen?« fragte Charles.
»Es tut mir leid, aber ich kann nicht«, antwortete Dr. Keitzman. »Aber etwas anderes kann ich tun, und ich fühle mich verantwortlich dafür. Ich möchte Sie bitten und ermutigen, einen Psychiater aufzusuchen. Sie haben einen schrecklichen Schock erlitten.«
Einen Moment überlegte Charles, ob dieser Vorschlag nicht Grund genug war, Dr. Keitzman einmal gehörig die Meinung zu sagen. Aber dann entschied er sich anders und legte einfach auf. Während er zur Tür ging, spielte er in Gedanken mit der Möglichkeit, zurück in Michelles Zimmer zu schleichen. Aber die Oberschwester beobachtete ihn wie ein Falke, und einer der Wachmänner stand noch immer an der Schwesternstation und blätterte uninteressiert in einer Illustrierten. Charles ging zum Fahrstuhl und drückte den Knopf. Während er wartete, begann er darüber nachzudenken, welche Wege ihm jetzt noch offenstanden. Er war nur noch auf sich selbst gestellt, und morgen, nach seinem Treffen mit Dr. Ibanez, würde das um so mehr gelten.
Ellen Sheldon kam später als gewöhnlich am Weinburger-Institut an. Dennoch ließ sie sich Zeit, denn der Weg über den Parkplatz war tückisch. In der vorangegangenen Nacht war das Wetter in Boston wieder einmal typisch wechselhaft gewesen. Angefangen hatte es mit Regen, darauf hatte es geschneit und gegen Morgen schließlich wieder geregnet. Dann war der Matsch auf den Straßen hart gefroren. Als Ellen endlich den Institutseingang erreicht hatte, war es acht Uhr dreißig.
Für ihre Verspätung gab es zwei Gründe. Erstens wußte sie gar nicht, ob Charles überhaupt ins Labor kommen würde. Also hatte sie auch nichts vorzubereiten. Und zum anderen war sie in der letzten Nacht erst sehr spät nach Hause gekommen. Sie hatte eines ihrer Grundprinzipien verletzt: Verabrede dich nie aus einer Augenblicksstimmung heraus. Aber nachdem sie Dr. Morrison berichtet hatte, daß Charles nicht länger am Canceran-Projekt arbeiten wollte, hatte er sie überzeugt, den Rest des Tages freizunehmen. Außerdem hatte er sich noch ihre Privatnummer geben lassen, um sie davon zu unterrichten, was bei dem Gespräch mit Charles und den Weinburgers herausgekommen war, Ellen hatte nicht erwartet, daß er wirklich anrufen würde, aber er hatte es getan und ihr erzählt, daß Charles eine letzte Frist eingeräumt worden war. Innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden müßte er sich entscheiden, ob er nun mitspielen wollte oder nicht. Dann hatte Dr. Morrison sie zum Essen eingeladen. Ellen hatte sich entschieden, es als
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