Fieber
das Haus sehen. Es stand strahlendweiß gegen den dunklen Schatten des Immergrüns hinter der Scheune.
In der Nähe des Hintereingangs brachte Cathryn den Wagen zum Stehen. Sie sah zum Haus hinüber und mußte daran denken, wie grausam das Leben sein konnte. Es schien, daß ein kleines Ereignis eine unaufhaltsame Kettenreaktion auslösen konnte, wie in einer Reihe von Dominosteinen jeder Stein unausweichlich den nächsten umwarf, wenn der erste zu Fall gebracht worden war. Cathryn stieg aus dem Wagen undhörte, wie der Wind die Tür von Michelles Spielhaus bei jeder Böe gegen die Holzwand des kleinen Hauses schlug. Als sie genauer hinsah, entdeckte sie, daß die meisten der kleinen Glasscheiben aus den Sprossenfenstern eingeschlagen worden waren. Nachdenklich stapfte sie durch den Schnee zur Hintertür des Farmhauses. Auf der Treppe holte sie ihren Schlüsselbund aus der Tasche, öffnete die Tür und trat in die Küche.
Entsetzt schrie Cathryn auf, als sie im Augenwinkel eine schnelle Bewegung wahrnahm. Jemand kam hinter der Tür hervor und stürzte sich auf sie.
Im nächsten Augenblick wurde sie gegen die Küchenwand gepreßt. Die Hintertür wurde mit solchem Schwung zugeworfen, daß sogar die Wände erzitterten.
Cathryns Schrei stockte und erstarb in ihrer Kehle. Es war Charles! Sprachlos sah sie ihm nach, als er eilig von Fenster zu Fenster lief und unruhig hinaussah. Seine rechte Hand hielt ein Schrotgewehr umklammert. Charles hatte die Fenster von innen notdürftig mit Brettern vernagelt. Er mühte sich, durch die verbliebenen Spalten und Ritzen etwas erkennen zu können. Bevor Cathryn sich noch beruhigen konnte, packte Charles sie am Arm und zog sie eilig aus der Küche durch den Flur in das Wohnzimmer. Dort ließ er sie los und lief wieder von einem Fenster zum anderen, um hinauszusehen.
Cathryn stand vor Angst und Überraschung wie gelähmt.
Als Charles sich schließlich wieder zu ihr wandte, sah sie, wie erschöpft er war.
»Bist du allein gekommen?« fragte er mit drohendem Unterton.
»Ja«, antwortete Cathryn. Sie fürchtete sich, auch nur ein Wort mehr zu sagen.
»Gott sei Dank«, sagte Charles. Sein ernstes Gesicht entspannte sich sichtbar.
»Was tust du hier?« fragte Cathryn.
»Dies ist mein Haus«, antwortete Charles. Er atmete tief ein und stieß die Luft durch seine Lippen pfeifend wieder aus.
»Ich verstehe dich nicht«, sagte Cathryn. »Ich habe gedacht, daß du Michelle geholt hast und mit ihr fortgelaufen bist. Hier wird man dich doch finden!«
Zum ersten Mal wandte Cathryn ihren Blick von Charles und sah sich in ihrem Wohnzimmer um. Es hatte sich völlig verändert. Die chromglänzenden technischen Geräte aus dem Weinburger-Institut waren längs der Wände aufgestellt. In der Mitte des Raumes stand ein provisorisch hergerichtetes Krankenbett, in dem Michelle schlief.
»Michelle«, rief Cathryn überrascht. Mit wenigen Schritten war sie an dem Bett und griff nach der Hand ihres Kindes. Charles war ihr langsam gefolgt.
Für einen kurzen Moment öffnete Michelle die Augen. Ein schnelles Aufflackern in ihrem Blick verriet, daß sie Cathryn erkannt hatte, dann schlossen sich ihre Lider wieder. Cathryn wandte sich zu Charles.
»Charles, was, um Himmels willen, tust du hier?«
»Ich werde es dir gleich sagen«, antwortete Charles. Er nahm Cathryn bei der Hand und bedeutete ihr, ihm in die Küche zu folgen.
»Kaffee?« fragte er.
Cathryn schüttelte den Kopf. Ihr Blick blieb fest auf Charles geheftet, während er sich selbst eine Tasse einschenkte. Dann setzte er sich Cathryn gegenüber an den Küchentisch.
»Erst will ich dir noch etwas anderes sagen«, begann er und sah sie offen dabei an. »Ich habe Zeit gehabt nachzudenken, und ich glaube, ich verstehe jetzt, in was für einer schwierigen Situation du im Krankenhaus warst. Es tut mir leid, daß du die Folgen meiner Unentschlossenheit darüber, wie Michelle behandelt werden sollte, zu ertragen hattest. Und ich weiß besser als ein Laie, wie sehr die Ärzte einen Patienten und seine Familie unter Druck setzen können, um ihren Willen durchzusetzen. Wie auch immer, ich habe begriffen, wie es zu dieser Vormundschaftsgeschichte kommen konnte. Ich weiß, daß niemand etwas Unrechtes wollte oder gar in böser Absicht gehandelt hat. Am wenigsten du, Cathryn. Mein Verhalten im Krankenhaus tut mir leid, aber ich konnte nicht anders. Ich hoffe, du wirst mir verzeihen. Ich weiß, daß du immer nur das Beste für Michelle gewollt
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