Fieber
ihren Körper. Cathryn konnte nicht verstehen, warum Michelle ihre Krankheit so verleugnete. Vielleicht fürchtete sie sich genauso vor dem Krankenhaus wie Cathryn. Sie ging zurück ins Wohnzimmer und nahm das Kind in beide Arme. »Du brauchst keine Angst zu haben, Michelle.«
»Ich habe auch keine Angst.« Michelle sträubte sich gegen Cathryns Umarmung.
»Du hast keine Angst?« fragte Cathryn überrascht. Es traf sie jedesmal, wenn ihre Zuneigung zurückgewiesen wurde. Cathryn lächelte gedankenverloren. Ihre Hände lagen noch immer auf Michelles Schultern.
»Ich glaube, es ist besser, wenn ich zur Schule gehe. Wenn du mir einen Zettel schreibst, brauche ich ja keine Gymnastik mitzumachen.«
»Michelle, seit einem Monat fühlst du dich nicht gut. Heute morgen hattest du Fieber. Ich denke, es ist Zeit, daß wir etwas dagegen tun.«
»Aber jetzt fühle ich mich wieder gut, und ich will zur Schule.«
Cathryn nahm die Hände von Michelles Schultern und sah nachdenklich in das trotzige Gesicht ihrer Tochter. In so vieler Hinsicht war ihr Michelle ein Rätsel geblieben. Sie war so ein klares, ernsthaftes kleines Mädchen, das reifer schien, als ihr Alter hätte vermuten lassen. Aber aus irgendeinem Grund ließ sie Cathryn nicht an sich heran. Cathryn fragte sich, ob der Grund hierfür vielleicht darin lag, daß Michelle ihre Mutter so früh verloren hatte. Sie war erst drei Jahre alt gewesen. Cathryn wußte, was es heißt, nur mit einem Elternteil aufzuwachsen. Schließlich war auch sie ohne ihren Vater groß geworden.
»Ich weiß, was wir machen«, sagte Cathryn und überlegte angestrengt, wie sie die Situation lösen konnte. »Wir messen noch einmal deine Temperatur. Wenn du immer noch Fieber hast, fahren wir ins Krankenhaus. Wenn nicht, bleiben wir hier.«
Das Thermometer zeigte 38,2 Grad.
Anderthalb Stunden später bremste Cathryn den alten Dodge vor dem Parkhaus des Kinderkrankenhauses und zog einen Parkschein aus dem Automaten. Sie war dankbar, daßdie Fahrt ereignislos verlaufen war. Michelle hatte fast die ganze Zeit geschwiegen und nur auf Fragen geantwortet. Cathryn fand, daß sie erschöpft aussah. Ihre Hände lagen regungslos in ihrem Schoß wie bei einer Marionettenpuppe, die darauf wartet, daß an ihren Fäden gezogen wird.
»Woran denkst du?« Cathryns Frage unterbrach ein langes Schweigen. Sie konnten keinen freien Platz finden und fuhren von Etage zu Etage.
»An nichts«, antwortete Michelle, ohne sich zu bewegen.
Cathryn sah Michelle aus dem Augenwinkel an. Sie wünschte sich so sehr, daß Michelle ihre Zurückhaltung aufgab und Cathryns Zuneigung annahm.
»Magst du mir deine Gedanken nicht verraten?« beharrte Cathryn.
»Ich fühl’ mich nicht gut. Ich fühle mich sehr schlecht. Ich glaube, du wirst mir aus dem Auto helfen müssen.« Cathryn sah wieder in Michelles Gesicht und brachte den Wagen abrupt zum Stehen. Dann beugte sie sich zum Beifahrersitz und nahm das Kind in die Arme. Das kleine Mädchen wehrte sich nicht. Sie rückte zu Cathryn herüber und legte den Kopf an ihre Brust. Cathryn fühlte warme Tränen auf ihren Arm fallen.
»Ich helfe dir doch gerne, Michelle. Wann immer du willst. Das verspreche ich dir.«
Cathryn hatte das Gefühl, endlich eine unsichtbare Schwelle überschritten zu haben. Zweieinhalb Jahre hatte sie geduldig gewartet, aber es war nicht umsonst gewesen.
Durchdringendes Autohupen holte Cathryn zurück in die Gegenwart. Sie griff zum Steuer und fuhr wieder an. Erfreut bemerkte sie, daß Michelle nicht wieder von ihr wegrückte.
Mehr als jemals zuvor fühlte sich Cathryn als Mutter. Michelle war so schwach, daß Cathryn ihr auch durch die Drehtür zur Eingangshalle helfen mußte. Ihre Bitte nach einem Rollstuhl wurde sofort erfüllt, und obwohl Michelle sich anfangs dagegen sträubte, ließ sie sich dann doch von Cathryn schieben.
Die neugewonnene Nähe zu Michelle dämpfte Cathryns Furcht vor dem Krankenhaus. Die freundliche Ausgestaltung des Raumes tat ein Weiteres. Der Boden der Eingangshalle warin einer warmen Farbe gefliest und überall standen Pflanzen. Alles erinnerte eher an ein Luxushotel als an ein Großstadtkrankenhaus.
Auch die Stationsräume machten einen beruhigenden Eindruck. Als sie Dr. Wileys Wartezimmer betraten, warteten dort bereits fünf Patienten. Verärgert stellte Michelle fest, daß keiner älter als zwei Jahre war. Sie wollte sich schon darüber beklagen, aber dann konnte sie durch eine offene Tür für einen Moment ins
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