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Fiebertraum

Fiebertraum

Titel: Fiebertraum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George R.R. Martin
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Herrgottsfrühe legen wir nach Natchez ab. Haben Sie verstanden, Mister Grove? Ich will keine Minute Licht verlieren. Sobald die Sonne aufgeht, müssen wir unter Dampf sein, damit wir sofort losfahren können.« Vielleicht gab es für Joshua nichts anderes als Verzweiflung im Herzen, doch Abner Marsh hatte einiges mehr als das. Da waren noch offene Rechnungen, die beglichen werden müßten, und wenn er mit allem fertig war, dann bliebe von Damon Julian nicht viel mehr übrig als von jener verfluchten Statue in dem Gedicht.

KAPITEL DREIUNDZWANZIG
 
An Bord des Raddampfers Eli Reynolds Mississippi River, Oktober 1857
     
     
    A bner Marsh schlief nicht in dieser Nacht. Er verbrachte die langen Stunden der Dunkelheit in seinem Sessel auf dem Sturmdeck, die Lichter von Vicksburg im Rücken, und blickte über den Fluß. Die Nacht war kühl und still, das Wasser war wie schwarzes Glas. Ab und zu kam ein Dampfer in Sicht, eingehüllt in Flammen und Rauch und einen Funkenregen, und die Ruhe zerriß, während das Schiff vorbeirauschte. Doch dann machte es fest, oder es dampfte weiter, der Klang der Pfeife verhallte, und die Dunkelheit schloß sich wieder und umhüllte ihn wie weicher Samt. Der Mond war ein Silberdollar, der auf dem Wasser trieb, und Marsh hörte knarrende nasse Geräusche von der müden Eli Reynolds und gelegentlich Schritte oder auch den Fetzen eines Liedes aus Vicksburg, und stets wie ein Teppich unter allem den Atem des Flusses, das Rauschen seiner unerschöpflichen Fluten, die vorbeiströmten, die an seinem Schiff zerrten, es stießen und versuchten, es mitzunehmen, hinunter, nach Süden, dorthin wo das Nachtvolk und die Fiebertraum warteten.
    Marsh fühlte sich seltsam berührt von der Schönheit der Nacht mit ihrer düsteren Lieblichkeit, die Joshuas schneidigen Engländer so tief bewegt hatte. Er kippte den Sessel nach hinten gegen die Glocke des alten Dampfers und ließ den Blick hinausschweifen zum Mond und den Sternen und über den Fluß und dachte, daß dies vielleicht der letzte friedliche Moment war, den er je erleben würde. Denn morgen - oder ganz gewiß am Tag danach - würden sie die Fiebertraum finden, und dann würde der Alptraum des Sommers aufs neue beginnen.
    Sein Kopf war voller Vorahnungen, voller Erinnerungen und Visionen. Er sah immer wieder Jonathon Jeffers mit seinem Stockdegen, so verdammt kühn und selbstsicher und so verdammt hilflos, als Julian sich mit der Klinge im Leib auf ihn stürzte. Er hörte das Geräusch, als Julian das Genick des Zahlmeisters brach, und erinnerte sich daran, wie Jeffers Brille heruntergefallen war, das goldene Blinken, als sie über das Deck rutschte, an das leise Klirren, als sie aufprallte. Marshs große Hände verkrampften sich um den Griff des Spazierstocks. Vor dem dunklen Fluß sah er auch noch andere Dinge. Die winzige Hand, festgenagelt von einem Messer und heftig blutend. Julian, wie er Joshuas dunkles Elixier trank. Die naß glänzenden Schmierspuren an Hairy Mikes Eisenknüppel, als er sein furchtbares Werk in der Kapitänskabine verrichtet hatte. Abner Marsh hatte Angst, Angst wie noch nie in seinem Leben. Um die Ungeheuer zu bannen, die durch die Nacht trieben, rief er sich seinen eigenen Traum ins Bewußtsein, seine Vision von sich selbst, wie er mit der Büffelflinte in der Faust vor der Tür der Kapitänskabine stand. Er hörte das Brüllen des Gewehrs und spürte den wuchtigen Rückschlag und sah Damon Julians bleiches Lächeln und die dunklen Locken zerplatzen wie eine Melone, die aus großer Höhe herabfiel, eine Melone, die mit Blut gefüllt war.
    Aber irgendwie, selbst als das Gesicht verschwunden war und der Rauch des Gewehrschusses sich verzogen hatte, waren die Augen noch da, starrend, lockend, Dinge in ihm weckend, Wut und Haß und düstere, verborgene Gefühle. Die Augen waren so schwarz wie die Hölle selbst und erfüllt mit roten Schächten, so endlos und ewig wie sein Fluß, die ihn anschauten, seine eigenen Gelüste weckten, seinen eigenen roten Durst. Sie schwebten vor ihm, und Abner Marsh schaute in sie hinein, in die warme Schwärze, und er sah dort seine Antworten, sah den Weg, wie sie zu besiegen waren, besser und sicherer als mit Degenklingen oder Holzpflöcken oder Büffelflinten.
    Feuer. Draußen auf dem Fluß brannte die Fiebertraum . Abner Marsh spürte es genau. Das schreckliche unvermittelte Aufheulen, das ihm in die Ohren schnitt, schlimmer als jeder Donner. Die Wolken von Flammen und Qualm, die

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