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Fiebertraum

Fiebertraum

Titel: Fiebertraum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George R.R. Martin
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sinnlichen Lippen. Er hatte ein grelles, kaltes Funkeln in den schwarzen Augen, als er Marsh mit einem kurzen Blick streifte. Und die Frau . . . Abner Marsh schaute sie an und es fiel ihm schwer, den Blick wieder von ihr zu lösen. Sie war eine wahre Schönheit. Langes Haar, so schwarz wie die Nacht, die Haut so weich wie milchweiße Seide, hohe Wangenknochen. Ihre Taille war so schlank, daß Marsh den unwillkürlichen Wunsch verspürte, die Arme auszustrecken und zu versuchen, ob er sie mit seinen großen Händen umfassen konnte. Statt dessen schaute er ihr ins Gesicht und entdeckte, daß sie ihn ebenfalls anstarrte. Ihre Augen waren unglaublich. Marsh hatte noch nie zuvor Augen von einer solchen Farbe gesehen; es war ein tiefes, samtiges Violett, voller Verheißung. Er hatte das Gefühl, in diesen Augen versinken zu können. Sie erinnerten ihn an einen Farbton, den er ein- oder zweimal schon im Zwielicht auf dem Fluß gesehen hatte, eine seltsame violettfarbene Ruhe, nur kurz wahrzunehmen, ehe die Dunkelheit endgültig hereinbrach. Es kam Marsh so vor, als starrte er für eine kleine Ewigkeit hilflos in diese Augen, bis die Frau ihm endlich ein rätselhaftes Lächeln schenkte und sich schnell abwandte.
    Joshua hatte vier Gläser gefüllt; für Marsh einen Becher Whiskey, für sich selbst und die anderen von seinem Spezialgetränk. »Ich freue mich, daß Sie nun hier sind«, sagte er, während er mit dem Tablett herumging. »Ich gehe davon aus, daß Sie mit Ihrer Unterkunft zufrieden sind?«
    »Sehr«, sagte der Mann, hob sein Glas hoch und betrachtete es argwöhnisch. Als Marsh daran dachte, wie das Zeug ihm geschmeckt hatte, konnte er das durchaus verstehen.
    »Sie haben ein sehr schönes Dampfschiff, Captain York«, sagte die Frau mit warmer Stimme. »Es wird mir eine große Freude sein, damit zu reisen.«
    »Ich hoffe, daß wir eine geraume Zeit zusammen reisen werden«, erwiderte Joshua galant. »Was die Fiebertraum betrifft, so bin ich sehr stolz auf sie, aber Ihre Komplimente sollten Sie eher an meinen Partner weitergeben.« Er wies auf ihn. »Wenn Sie gestatten, mache ich die Herrschaften miteinander bekannt: Dieser Gentleman ist Captain Abner Marsh, mein Geschäftspartner in der Fevre River Packets und der wahre Meister der Fiebertraum , um der Wahrheit die Ehre zu geben.«
    Die Frau lächelte Abner Marsh wieder an, während der Mann steif mit dem Kopf nickte. »Abner«, fuhr York fort, »darf ich Sie mit Mister Raymond Ortega aus New Orleans und seiner Verlobten Miss Valerie Mersault bekannt machen?«
    »Es ist mir eine Freude, Sie auf dem Schiff zu haben«, sagte Marsh linkisch. Joshua hob sein Glas. »Einen Toast«, sagte er. »Auf einen neuen Anfang!« Sie wiederholten seine Worte und tranken.

KAPITEL ZWÖLF
 
An Bord des Raddampfers Fiebertraum Mississippi River, August 1857
     
     
    A bner Marsh hatte einen Verstand, der seinem Körper nicht unähnlich war. Er war groß, geräumig an Volumen und Fassungsvermögen, und er stopfte alle möglichen Dinge hinein. Er war auch stark; wenn Abner Marsh etwas in die Hand nahm, dann entglitt es ihm nicht so leicht, und wenn er sich in seinem Kopf etwas einprägte, dann wurde es nicht so leicht vergessen. Er war ein fähiger Mann mit einem fähigen Gehirn, aber Körper und Geist hatten auch noch eine andere Eigenschaft gemeinsam: Sie waren bedächtig. Einige meinten sogar langsam, träge. Marsh rannte nicht, er tanzte nicht, er hastete und beeilte sich nicht; er stolzierte würdig und gemessenen Schrittes immer geradeaus und gelangte nichtsdestoweniger stets an sein Ziel. Genauso war es mit seinem Verstand. Abner Marsh war nicht schnell, wenn es ums Denken oder um geschliffene Worte ging, aber er war alles andere als dumm; er kaute seine Gedanken gründlich durch, aber er allein bestimmte das Tempo.
    Während die Fiebertraum Natchez verließ, begann Marsh erst, sich die Geschichte, die er von Joshua York erfahren hatte, durch den Kopf gehen zu lassen. Je länger er darüber nachdachte, desto mehr ärgerte er sich. Wenn man sie glauben konnte, dann erklärte Joshuas ausgefallene Geschichte über seine Jagd auf Vampire eine ganze Menge der seltsamen Vorkommnisse, die die Fiebertraum aufgehalten hatten. Aber sie erklärte nicht alles. Abner Marshs langsames, aber zuverlässiges Gedächtnis warf weiterhin Fragen auf und produzierte Erinnerungen, die in seinem Kopf herumschwammen wie abgestorbenes Holz auf dem Fluß, zu nichts zu gebrauchen, aber störend und

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