Fillory - Die Zauberer
sich. Der schmale Dachsteg kam immer näher.
Und dann war das Gewicht auf einmal weg. Keuchend hockte er auf dem grauen Schieferdach. Wenigstens war ihm nicht mehr kalt. Er sah Alice an und Alice sah ihn an. Nur, dass sie nicht mehr Alice war. Sie war zu einer großen grauen Gans geworden, genau wie er.
Wieder schritt Professor Van der Weghe die Reihe ab. Mit beiden Händen ergriff sie jeden Studierenden und warf einen nach dem anderen schwungvoll vom Dach. Trotz des Schocks oder gerade deswegen breiteten alle instinktiv die Flügel aus und schwangen sich in die Luft, ehe sie von den kahlen, peitschenden Baumwipfeln unten gefangen werden konnten. Einer nach dem anderen segelte hinaus in die Nacht.
Als er an der Reihe war, quakte Quentin protestierend. Die Menschenhände von Professor Van der Weghe fühlten sich hart und beängstigend an und brannten auf seinem Federkleid. Er schiss ihr vor Angst auf die Füße. Aber dann war er in der Luft und trudelte nach unten. Er breitete die Flügel aus und schlug sich einen Weg hinauf zum Himmel, flatternd und auf die Luft eindreschend, bis sie ihn trug. Es wäre ihm unmöglich gewesen, es nicht zu tun.
Es zeigte sich, dass Quentins neues Gänsehirn für tiefschürfende Reflexionen nicht sonderlich geeignet war. Seine Sinne nahmen nur eine Handvoll von Schlüsselreizen wahr, diese aber sehr, sehr deutlich. Sein Körper war zum Sitzen oder Fliegen gemacht und für nicht sehr viel mehr, und zufällig war Quentin gerade nach Fliegen zumute. Genauer gesagt hatte er mehr Lust zu fliegen, als er je zu etwas anderem im Leben Lust gehabt hatte.
Ohne bewusst darüber nachzudenken oder sich besonders anzustrengen, bildeten er und seine Kommilitonen die übliche, lockere V-Formation, mit einer Kommilitonin namens Georgia an der Spitze. Georgia war die Tochter eines Verkäufers bei einem Autohändler in Michigan und war gegen den Willen ihrer Familie hier. Im Gegensatz zu Quentin hatte sie ihren Eltern alles über Brakebills erzählt. Als Lohn für ihre Ehrlichkeit wollten ihre Eltern sie in die Psychiatrie einweisen lassen. Dank Foggs subtiler Zauberkraft glaubten Georgias Eltern, sie hielte sich in einer Reha-Einrichtung für psychisch gestörte Erwachsene auf. Und diese Georgia, deren Disziplin ein obskurer Zweig der Heilung war, grob vergleichbar mit Endokrinologie, und die ihr drahtiges schwarzes Haar im Nacken mit einer Schildpattspange zusammenhielt, führte sie nun mit ihren brandneuen, lebhaft schlagenden Flügeln nach Süden.
Es war reiner Zufall; jeder von ihnen hätte die Schar anführen können. Obwohl Quentin durch die Verwandlung den Löwenanteil seiner kognitiven Fähigkeiten eingebüßt hatte, registrierte er unterschwellig, dass er auch einige neue Sinne hinzugewonnen hatte. Einer davon hatte etwas mit Luft zu tun: Er konnte die Windgeschwindigkeit, die Windrichtung und die Temperatur wahrnehmen wie Rauchwirbel in einem Windkanal. Der Himmel erschien ihm jetzt als dreidimensionale Karte von Strömungen und Gegenströmungen, freundlich aufsteigenden Wärmeschwaden und dichten, gefährlichen Kältetiefs. Ein Prickeln sagte ihm, dass ferne Kumuluswolken positive und negative Ladungen austauschten. Sein Orientierungssinn hatte sich ebenfalls geschärft. Es fühlte sich an, als schwömme ein feinkalibrierter, perfekt ausbalancierter Kompass in einem Ölbad im Zentrum seines Gehirns.
Er nahm unsichtbare Spuren und Gleise wahr, die sich in alle Richtungen von ihm weg in die blaue Ferne erstreckten. Es waren die Magnetfelder der Erde, und an ihnen entlang führte sie Georgia nach Süden. Bei Tagesanbruch flogen sie in einer Höhe von einer Meile bei einer Geschwindigkeit von sechzig Meilen pro Stunde. Sie überholten die Autos auf dem Hudson Parkway tief unter ihnen.
Sie passierten New York City. Eine steinerne Verkrustung, der knisternde, bedrohliche Hitze, elektrischer Funkenregen und giftige Faulgase entströmten. Sie flogen den ganzen Tag. Dabei folgten sie der Küstenlinie, vorbei an Trenton und Philadelphia, manchmal über das Meer, manchmal über gefrorene Felder. Sie surften auf Temperaturgefällen, wurden von der Thermik emporgetragen und wechselten nahtlos von Strömung zu Strömung, wenn die eine nachließ und die nächste aufkam. Es fühlte sich phantastisch an. Quentin konnte sich nicht vorstellen, je damit aufzuhören. Er konnte kaum fassen, wie stark er war, wie viele Flügelschläge er in seinen eisenharten Brustmuskeln gespeichert hatte. Er konnte sich
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