Fillory - Die Zauberer
ungefähr eine Tonne wog, bis ins Stadtzentrum. Als Reminiszenz an ihre glorreiche koloniale Vergangenheit hatte die Stadt strenge Baugesetze erlassen, wodurch sie alles in einem Zustand der permanenten, unnatürlichen Idylle bewahrte.
Da er niemanden kannte und ihm alles einerlei war, besichtigte Quentin die ehemalige Residenz eines Revolutionsführers, ein altes Blockhaus mit niedrigen Decken. Er besuchte eine kitschige, weiß gestrichene Unitarierkiche, erb. 1766. Er ließ den Blick über die saftig grünen, ebenen Rasenflächen schweifen, auf denen unorganisierte europäische Amateurtruppen erstklassig ausgebildeten, bis an die Zähne bewaffneten Rotjacken gegenübergestanden hatten, mit dem vorhersehbaren Ausgang. Eine angenehme Überraschung gab es: einen idyllischen, halb versunkenen Friedhof aus dem siebzehnten Jahrhundert, ein kleines, quadratisches Stückchen Pfarrland, auf dessen leuchtend grünem Gras safrangelbe Ulmenblätter verstreut lagen. Er war umgeben von einem verbogenen schmiedeeisernen Zaun, kühl und abgelegen.
Auf den Grabsteinen dominierten geflügelte Totenschädel und schlechte fromme Vierzeiler über ganze Familien, die vom Fieber dahingerafft worden waren. An manchen Stellen waren die Zeichen bis zur Unleserlichkeit verwittert. Quentin kauerte sich auf dem nassen Gras zusammen, um die Inschrift auf einem sehr alten Stein zu entziffern, einem Rechteck aus bläulichem Schiefer. Der Stein war in der Mitte gespalten und halb in den Boden eingesunken, der ihn wie eine Welle zu verschlingen schien.
»Quentin!«
Er richtete sich auf. Eine Frau ungefähr in seinem Alter war durch das Friedhofstor getreten.
»Hi«, grüßte er unsicher. Woher kannte sie seinen Namen?
»Du hast wohl gedacht, ich würde dich nicht finden«, sagte sie stotternd. »Das hast du dir so gedacht.«
Sie ging direkt auf ihn zu. Im letztmöglichen Moment, zu spät, um noch etwas zu unternehmen, erkannte er, dass sie nicht stehen bleiben würde. Ohne zu zögern griff sie nach den Aufschlägen seiner Freizeitjacke und drängte ihn rückwärts. Er stolperte über einen niedrigen Gehstein und landete in den aromatisch duftenden Zweigen einer Zypresse. Ihr Gesicht, das sich seinem gefährlich dicht näherte, war zu einer wütenden Grimasse verzogen. Da es tagsüber mehrere Regenschauer gegeben hatte, waren die Nadeln des Baumes feucht.
Quentin unterdrückte den Impuls, sich zu wehren. Er hatte keine Lust, bei einem Ringkampf mit einer jungen Frau auf einem Friedhof erwischt zu werden.
»Hey, hey, hey!«, sagte er. »Lassen Sie das! Hören Sie bitte auf!«
»Jetzt bin ich hier«, sagte sie, mühsam um Fassung ringend, »jetzt bin ich hier, und ich will mit dir reden. Du wirst dich mit mir auseinandersetzen müssen.«
Als er sie nun genauer ansah, erkannte er, wie erschreckend heruntergekommen sie war. Ihr ganzer Körper war völlig aus dem Gleichgewicht. Sie war zu blass und zu dünn. Ihre Augen flackerten unruhig. Ihr langes dunkles Haar hing strähnig herunter und roch ungewaschen. Sie war in ein zerfetztes Gothic-Outfit gekleidet und ihre Arme waren mit schwarzem Band umwickelt, das wie Isolierband aussah. Auf ihren Handrücken zeichneten sich schorfige rote Kratzer ab.
Beinahe hätte er sie nicht wiedererkannt.
»Ich war da und du warst da«, sagte Julia und blickte ihm starr in die Augen. »Warst du doch, oder? An dieser Schule, oder was immer das war. Du bist reingekommen, oder?«
Jetzt wurde ihm einiges klar. Sie hatte tatsächlich an dem Examen teilgenommen. Er hatte sich nicht geirrt. Aber sie hatte es nicht geschafft. Sie war schon in der ersten Runde rausgeflogen, bei der schriftlichen Prüfung.
Aber das konnte doch gar nicht sein! So etwas durfte nicht passieren, wozu gab es Schutzmaßnahmen? Jedem, der durch die Prüfung fiel, wurde von einem Lehrer oder einer Lehrerin sanft und liebevoll das Gehirn vernebelt. Anschließend wurden alle Erinnerungen an Brakebills mit einem hochplausiblen Alibi überschrieben. Es war weder leicht noch besonders moralisch, aber die Zauber waren human und vielfach erprobt. Nur, dass sie in ihrem Fall nicht gewirkt hatten, jedenfalls nicht vollständig.
»Julia«, sagte er. Ihre Gesichter waren sich ganz nah. Ihr Atem roch nach Nikotin. »Julia, was tust du hier?«
»Lüg mich nicht an, wage es bloß nicht, mich anzulügen! Du gehst auf diese Schule, stimmt’s? Die Zauberschule?«
Quentin versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Es war eine Grundregel in Brakebills,
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