Filmriss
Fenster kann ich sehen, dass im Innern wieder alles in Ordnung gebracht ist. Auch von außen scheint alles okay.
In diesem Moment kann ich gar nicht glauben, was hier in den letzten Wochen und Monaten passiert ist, vor allem aber nicht das von unserer letzten Nacht. Die Bilder dazu sind sehr weit hinten in meinem Kopf gut in einer Ecke verstaut.
Ich geh runter zum Wasser. Die Wellen sind grau, gelbe und weiße Kämme tanzen darauf. Ein Stück draußen fährt ein Schiff mit riesigen weißen Segeln Richtung offenes Meer. Ich denke an die Star Search . Ich denke an Sternenhimmel und Kompass, die wichtigen Dinge, um den Kurs nicht zu verlieren. Und ich denke an die Sternschnuppe, die vom Himmel gefallen ist, als Marlon und ich zusammen auf dem Boot waren und nach oben geschaut haben. An die hab ich schon ewig nicht mehr gedacht. Ich weiß auch noch, was ich mir damals gewünscht hab. Aber weil ich noch immer will, dass es in Erfüllung geht, darf ich es natürlich nicht verraten.
Ich sehne mich oft nach Marlon. Manchmal so sehr, dass es in mir brennt. Seit das alles passiert ist, habe ich ihn nicht mehr gesehen. Irgendwie ist alles kaputtgegangen. Keine Ahnung, ob noch irgendwas zu retten ist, ob wir den Kurs jemals wiederfinden werden. Marlon und ich, aber auch die anderen und ich, vor allem aber Frieda.
Sie ist noch immer in dieser Psychiatrie. Keine Ahnung, wie lange sie dort bleiben wird. Sie hat einen richtigen Alkoholentzug hinter sich und macht jetzt eine Therapie. Wegen der psychischen Folgen der Vergewaltigung und ihrer Abhängigkeit. Auch in dieser Hinsicht hat es sie von uns allen am schlimmsten erwischt. Sie wird ihr Leben lang alkoholkrank bleiben, das heißt, sobald sie auch nur einen kleinen Schluck trinkt, ist sie absturzgefährdet. Ihre Leber ist chronisch geschädigt.
Ich hab mir fest vorgenommen, bei ihr anzurufen. Das schieb ich zwar schon wieder eine ganze Weile vor mir her, aber ich werd es auf jeden Fall machen, das verspreche ich mir selbst.
Den Stern von Marlon hab ich inzwischen nicht mehr an der Kette, aber ich trag ihn immer bei mir in der Tasche. Wenn mir alles zu viel wird, nehme ich ihn in die Hand und konzentriere mich auf das Schöne im Leben.
Als ich langsam vom Wasser zurückgehe, klingelt in der Tasche mein Handy. Es gibt Momente, da weiß man plötzlich, dass alles anders wird im Lebe n … Das fängt vielleicht mit irgendeiner Kleinigkeit a n … Nicht weit vom Strand steckt ein Seehund seinen Kopf aus dem Wasser. Ich erinnere mich an Amadeus und Mo, die auf ihren Optimismus angewiesen sind, um sich im Aquarium Freiheit vorzugaukeln. Der hier ist frei. Er schaut zu mir rüber, und ich bin ganz sicher, dass er mir zuzwinkert, bevor er wieder in den Wellen verschwindet. Als Letztes sehe ich seine Schwanzflosse, die aufs Wasser klatscht. Endlich gehe ich ans Handy, mein Herz schlägt schnell und laut.
Autoreninformation
Olaf Büttner wurde 1956 geboren. Er schrieb
zahlreiche Kurzgeschichten und Romane für Jugendliche und Erwachsene. 2005 erhielt er den DeLiA für den besten Liebesroman und war 2009 für den Hansjörg-Martin-Preis, der jährlich für
den besten Jugendkrimi vergeben wird, nominiert. Neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit
arbeitet er als Sozialpädagoge. Er wohnt in einem kleinen Dorf an der Nordsee.
Mehr Infos unter
www.olafbuettner.de.vu
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