Filmwissen
als ‹moderner› Film gedacht. Dafür spricht u. a. der Umstand, dass Bresson – Michel Estève (‹Robert Bresson › , Paris 1974) machte darauf aufmerksam – absichtlich mehrere Anachronismen verwendet. Weder die Zelte noch das Schachspiel, weder die runde Tafel noch der Bottich, in dem Ginevra gebadet wird, stammen aus der geschilderten Epoche.»
Bresson plante Lancelot seit über 20 Jahren. Obwohl mehrmals ange- kündigt, scheiterte das Projekt immer wieder an fehlender finanzieller Unterstützung. Über die Entstehung des Films berichtet Jonathan Rosenbaum ( Sight and Sound , Sommer 1974) Folgendes:
«Die Dreharbeiten dauerten fast vier Monate und fanden im Gebiet der Vendée (einschließlich Ile de Noirmoutier) statt; allein die Tonmontage nahm dreieinhalb Wochen in Anspruch. Meines Wissens gibt es nur zwei Punkte in Bressons Traum, die unverwirklicht blieben. Er konnte den Film nicht gleichzeitig in einer englischen und französischen Fassung drehen, ein Wunsch, den er vor acht Jahren in einem Interview mit Godard erwähnte … Und er willigte dem Produzenten zuliebe ein, den Film Lancelot du lac zu nennen statt den Titel des Drehbuchs, ‹Le Graal › , zu verwenden.»
Die Grundstimmung in der Handlung ist das Gefühl einer Vergeblichkeit und Ohnmacht, die beinahe an Verdammnis denken lässt. Verwirrt und wie betäubt sind die Ritter von der vergeblichen Suche nach dem Gral zurückgekehrt. Dieser Gral, die Reliquie eines Abendmahlsgefäßes, in dem das Blut Christi aufgefangen worden sein soll, ist, wie Bresson gesagt hat, «das Absolute, Gott». Lancelot (Luc Simon) selber, der «erste Ritter» der Tafelrunde, hat den Gral immerhin mit eigenen Augen gesehen, und er hat bei seinem Anblick geschworen, sein ehebrecherisches Verhältnis mit der Königin Ginevra (Laura Duke Condominas), das er für den Misserfolg und die Gottesferne der Ritter verantwortlich macht, zu beenden. Freilich gibt es für diesen Verfall des Rittertums auch noch andere Gründe: Verrat, Roheit, Plünderungen, Mord haben die verläßliche Moral und den Ehrbegriff der Ritter zerstört. In seiner Verzweiflung schließt König Artus den Saal mit der Tafelrunde und beschwört die Ritter, sich in religiösen und ritterlichen Übungen darauf vorzubereiten, dass Gott ihnen eines Tages ein Zeichen geben wird. Dieses Zeichen bleibt aus, und die Rituale der Ritter, die religiösen und höfischen Zeremonien, die Turniere erscheinen immer leerer und grotesker. Ginevra unterdessen ist keineswegs zum Verzicht auf ihre Liebe bereit. Während Lancelot unter der Schuld leidet, die er auf sich genommen hat, ebenso wie an seiner Feindschaft mit Mordred, die er nicht beenden kann, fordert sie ihr Recht. An einem Turnier, zu dem die Ritter der Tafelrunde herausgefordert worden sind, nimmt Lancelot teil (ohne sich allerdings zu erkennen zu geben), obwohl Ginevra sich mit ihm in der Zeit, da alle Ritter Camelot verlassen haben, treffen wollte. Lancelot triumphiert auf dem Turnierplatz, aber er wird schwer verwundet. Nachdem ihn eine alte Frau gesundgepflegt hat, entführt er die Königin. Artus versucht nun, Blutvergießen zu vermeiden und den drohenden Zerfall seiner Ritterherrschaft aufzuhalten, indem er einwilligt, die Königin wieder bei sich aufzunehmen, und auch Lancelot weiß, dass es für ihn und Ginevra keine gemeinsame Zukunft geben kann. Zur selben Zeit jedoch hat sich Mordred mit einem Heer von Söldnern gegen den König erhoben, und Lancelot zieht an der Seite der Artus-Ritter in den Kampf. Doch die Kampftechnik der Ritter ist ebenso veraltet wie ihr Kodex; wie eingekerkert in ihren schweren Rüstungen sterben sie unter den Pfeilen von Mordreds Landsknechten.
Bresson zeigt eine Welt, deren Ende allfällig, aber doch weder rational noch emotional völlig zu fassen ist. Oft hört man mehr als man sieht (das Klappern der Ritterrüstungen begleitet den Weg in den Untergang als Ausdruck einer kaputten Mechanik), Sprache und Bild sind wie ein Zeremoniell gehandhabt. (Alle Schauspieler sind Laien.) Das Ende der Ritterwelt ist zugleich der Beginn dessen, was wir Bewusstsein nennen und was vielleicht, wie hier, seinen Anfang immer in der Ahnung eigener Schuldverstrickung und damit verbunden einem Verlust an Unschuld hat. Dieses Bewusstsein aber entsteht zwangsläufig, wo eine Epoche ihre Mythologie so streng und unbarmherzig zu Ritual und Kult verhärtet und sich ihr ausgeliefert hat, wie sich die Menschen in ihren fast grotesken Rüstungen selber
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