Fingermanns Rache
Wachlin,
KREUZBERG
:
PROLOG
Der Viktoriapark ist ein
idyllischer Ort. Etwas unheimlich vielleicht, vor allem bei Vollmond. Er taucht
das Laub der alten Bäume in silbriges Licht und malt seltsame Schatten auf die
vom Nachttau feuchten Wiesen.
Über uns
das Nationaldenkmal. Es soll an die Befreiungskriege gegen Napoleon erinnern
und sieht aus wie der Turm einer gotischen Kathedrale.
Irgendwie
gruselig, findest du nicht? Vor allem das eiserne Kreuz auf der Spitze ragt wie
eine düstere Mahnung in den sternenklaren Nachthimmel. Es gab dem Berg seinen
Namen: Kreuzberg.
An dessen
Nordflanke rauscht ein wildromantischer Wasserfall in die Tiefe. Das sind
sozusagen die »Viktoriafälle« von Berlin. Sie fließen in kleinen Stromschnellen
talwärts, in gurgelnden Strudeln über blank gespülte Steinstufen und Klippen
voller Moos unter dichten immergrünen Sträuchern und Bäumen. Hier ist es kühl,
selbst an heißesten Sommertagen. Dann erholen sich die Menschen auf den Bänken
und Steinen am Wasser, kühlen die Füße darin oder nehmen ein erfrischendes Bad.
Doch jetzt
ist niemand hier. Es ist gleich Mitternacht, und wir sind ganz allein auf dem
Kreuzberg. Von hier oben hat man einen tollen Blick auf die Stadt. Wie ein
endloses Lichtermeer umgibt sie uns, wie ein riesiger funkelnder Diamant.
Halte einen
Moment inne. Verharre und genieße den Ausblick, denn es ist das Letzte, was du
sehen wirst vor deinem Tod.
Nun guck
nicht so erschrocken. Hast du wirklich geglaubt, Verräter kommen einfach so
davon?
Keine
Angst, es wird ganz schnell gehen. Ohne Schmerz. Nur ein dumpfer Schlag, dein
leises Röcheln und dann der Sturz in die Tiefe. Es geht leider nicht anders.
Du wirst
sterben. – Jetzt!
1 MEYER LEGTE DEN KOPF in den Nacken, blinzelte die Morgensonne an und atmete tief durch. Hinter ihm
schlossen sich die schweren Stahltore der Tegeler Justizvollzugsanstalt. Der
größte Knast Deutschlands seit 1898. Hier hatten sie schon den Papst
eingebuchtet, Andreas Baader und den Hauptmann von Köpenick. Meyer war jetzt
draußen. Vorläufig jedenfalls. Punkt neunzehn Uhr hatte er sich hier wieder
einzufinden. »Freigang« nannte sich das. Wegen guter Führung. Und um sich
wieder einzugliedern in die Gesellschaft.
Es wird
etwas passieren, dachte er, umsonst lassen sie mich nicht raus.
Meyer
wandte sich nach links und lief langsam die Seidelstraße hinunter. Ein heißer
Augusttag brach an, schon jetzt flimmerte der Asphalt im Sonnenlicht. Richtiges
Hochsommerwetter, da sollte man eigentlich Shorts und T-Shirt tragen. Dennoch
hatte sich Meyer für einen schwarzen Rollkragenpullover, teure italienische
Slipper und die anthrazitfarbene Bundfaltenhose entschieden, die perfekt zum
weit geschnittenen Sakko passte. Er wollte nicht wie ein Sträfling aussehen,
wie ein Freigänger auf Bewährung.
Zudem hatte
er keine andere zivile Kleidung. Im Knast trug man Anstaltskluft. Zwar hätte
Meyer Monika bitten können, ihm ein paar Sachen zu schicken, aber sie wusste ja
nicht, dass er jetzt besuchsweise rausdurfte. Sie sollte es nicht wissen. Meyer
wollte sie überraschen, und deshalb trug er jetzt jene Kleidung, mit der er im
vergangenen Oktober seine Haftstrafe angetreten hatte. Herbstlich und viel zu
warm, aber edel. Nichts von der Stange jedenfalls. Allein das Sakko hatte gut
anderthalbtausend Mark gekostet. In der Innentasche knisterten zwei Papiere.
Ein offizielles von seinem Bewährungshelfer mit Kontaktadressen vom Sozialamt
und der Eingliederungshilfe. Und dann eines, das ihm der Anwalt unauffällig
zugesteckt hatte. Handschriftlich war darauf der Name des stellvertretenden
sowjetischen Militärattachés an der Botschaft Unter den Linden vermerkt.
Gennadi Njasow, ein General a. D., der Meyer schnellstmöglich treffen wolle. Es
ginge um eine dringende strategische Angelegenheit.
Ja, dachte
Meyer, es wird etwas passieren.
Neben ihm
stoppte ein giftgrüner Opel Corsa und hupte. Meyer zuckte zusammen und wandte
sich um. Im Wagen saß eine Frau, nicht mehr ganz jung, vielleicht Mitte, Ende
vierzig, und winkte ihm zu.
»Sind Sie
Meyer?«
»Wer will
das wissen?«
»Sie sind
Meyer«, stellte die Frau fest und öffnete die Beifahrertür. »Steigen Sie ein,
wir müssen reden!«
»Reden?«
Meyer ging zögernd auf den Wagen zu und beugte sich fragend zur Fahrerin
hinunter. »Worüber?«
»Vielleicht
über Ihre Zukunft?« Die Frau erwiderte seinen Blick. »Vielleicht aber auch über
Ihr geplantes Treffen
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