Fingermanns Rache
Sekretärin abgefangen.
»Der Chef erwartet Sie sofort in seinem Büro«, sagte sie kurz angebunden.
»Meinen Mantel darf ich aber noch ablegen«, antwortete er gereizt, doch die Sekretärin hatte sich schon wieder abgewandt und lief unter lautem Klacken ihrer hohen Absätze den Gang entlang. Leise vor sich hinfluchend eilte Illsen in sein Büro, warf Aktenkoffer und Mantel auf den Schreibtisch und folgte dem Ruf seines Chefs.
»Sie sind spät dran«, stellte Sandt fest, während die Staatsanwältin Hilde Rensch ihn kaum beachtete. Sie sah unausgeschlafen aus und wirkte nervös. Peter Illsen hätte jetzt sein Zuspätkommen mit dem Stau begründen können und damit, dass sein Jüngster krank geworden war und dass seine Frau in solchen Situationen immer den Überblick verlor und ohne ihn hilflos war. Er hätte sagen können, dass sie sich gestritten hatten und sie, wie so oft, mit den immer gleichen Vorwürfen gekommen war: dass er keine Zeit für die Familie habe und nur an sich und seinen Beruf denke. Dass er anderen Frauen nachsteige und sie nur eine Lückenbüßerin sei. Dies alles hätte er sagen können, aber da Privates hier nichts zu suchen hatte, machte er nur eine entschuldigende Geste und setzte sich neben Kai Mendel, der ihm kurz zunickte und sich dann wieder um das Ordnen seiner Unterlagen kümmerte.
Kriminaldirektor Jochen Sandt schaute auf seine Uhr und sagte: »Wir haben gerade noch eine Viertelstunde. Das muss jetzt eben reichen, um uns abzustimmen. Ich nehme an, jeder von Ihnen hat die Morgenausgabe des TAGESGESCHEHEN s gelesen.« Ohne auf Reaktionen zu warten, fuhr er fort: »Dem meisten, was Hansen schreibt, können wir wohl zustimmen.« Sandt lächelte freudlos. »Viel mehr wissen wir ja auch nicht.«
»Ganz so ist es nicht.« Illsen verschränkte die Arme. »Hansen und seine Redakteure kennen zwar die Umstände der Entführung und die Auswirkungen der Fortsetzungsromane auf unsere Arbeit, aber sie wissen nicht, was davon Fiktion ist und was auf den Stichworten Lokis beruht.«
»Das mag schon sein, aber die Ereignisse sprechen doch für sich. Die Beurlaubung Schortens und der Tod Bakkers, um die zwei wichtigsten zu nennen. Alles war in der Zeitung angekündigt. Daraus haben die Journalisten ihre Schlüsse gezogen – sie nehmen die Hinweise im BERLINER TAGESGESCHEHEN wörtlich. Jetzt suchen sie die Entführer auf eigene Faust und bitten die Bevölkerung um ihre Mithilfe. Ich zitiere: ›Nach allem, was uns der Fortsetzungsroman offenbart, befinden sich die Entführer in einem alten Kraftwerk oder einer ähnlichen Industrieruine. Die Vermutung liegt nahe, dass sich das gesuchte Gebäude in Berlin oder dessen Außenbezirken befindet. Auf sachdienliche Hinweise setzt das BERLINER TAGESGESCHEHEN eine Belohnung von zehntausend Euro aus.‹«
»Natürlich gehen ihre Vermutungen in unsere Richtung«, lenkte Illsen ein, »aber sie wissen nicht, dass die letzte Folge von Marion Tesic geschrieben wurde und ihnen somit die wichtigsten Informationen, wie die Ortskoordinaten und der Zeitpunkt, an dem die Entführer sich wohl zu erkennen geben, vorenthalten wurden.«
»Das hat sie wirklich gut gemacht, die Frau Tesic«, meldete sich endlich die Staatsanwältin Hilde Rensch zu Wort. »Nur schade, dass unser Entführungsopfer den Kopf beziehungsweise seinen Finger dafür hinhalten musste.«
»Ihren Zynismus können Sie sich sparen«, entgegnete Illsen. »Mit Lokis Reaktion konnte man nicht rechnen. Frau Tesic leistet gute Arbeit.«
»So gut, dass Sie sie in diese Einöde nach Tromptow abschieben?«
»Frau Tesic geht dort wichtigen Hinweisen nach. Es ist immer gut, in zwei Richtungen zu ermitteln.«
Sandt mischte sich ein. »Wir wollten uns abstimmen und nicht streiten. Also reißen Sie sich bitte zusammen. Zurück zur Pressekonferenz. Vermutlich wird die Frage nach der Verbindung zu dem Kinderheim gestellt. Was antworten wir darauf?«
Illsen wandte sich Sandt zu. »Nun, das BERLINER TAGESGESCHEHEN hat ja in Tromptow selbst recherchiert, aber nichts groß erfahren. Frau Eisen hat wohl einen ziemlich verwirrten Eindruck hinterlassen. Darauf können wir aufbauen. Ich schlage vor, diese Spur offiziell als nicht relevant, als einen nicht ernst zu nehmenden Hinweis einer verwirrten alten Dame einzuordnen.«
»Dem stimme ich zu«, sagte die Staatsanwältin zur allgemeinen Erleichterung. »Ich bin sowieso der Meinung, dass wir hier in einer Sackgasse ermitteln. Am besten, Sie ziehen Frau Tesic wieder ab,
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