Fingermanns Rache
Glücks. Sie genoss die Situation. Den Schweiß, den Gestank, die Anspannung, das Zittern ihrer Hand. Dieses faszinierende Zittern, das den Mechanismus auslösen konnte. Was war das für ein Schmerz, wenn man seine Hand verlor? Würde sie ohnmächtig werden, würde sie gar nichts spüren, oder würde es wie das Brennen sein, wenn man sich mit einem Messer ins eigene Fleisch schnitt? Würde sie das Knacken hören, wenn die Knochen brachen, würde das Blut in einer Fontäne aus ihren Venen schießen? Würde sie allmählich verbluten?
Das Zittern kündigte sich wieder an. Es kam in immer kürzeren Abständen, der ständigen Anspannung, der unbequemen Haltung geschuldet. Gebannt beobachtete sie, wie sich ihre Muskeln verselbstständigten, wie sich ein Teil ihres Körpers ihrem Willen entzog. Jetzt war es so weit. Ihre Finger verkrampften sich, ihr Unterarm begann zu beben. Hilde Rensch krümmte sich, bog mit aller Macht ihr Handgelenk nach oben, legte ihren Kopf auf die Tischplatte, stemmte sich gegen sich selbst.
Das Zittern ging vorüber, Hilde Rensch richtete sich auf. Auch wenn die Vorstellung berauschend war, wollte sie ihre Hand nicht verlieren. Bei körperlichen Züchtigungen musste immer zwischen Gewinn und Einsatz abgewogen werden. Der Gewinn hatte zwar seinen Reiz, aber der Einsatz war viel zu hoch. Selbst die Rettung ihres alten Lebens wog den Verlust ihrer Hand nicht auf.
Im Grunde hatte sie sich längst entschieden. Sie würde niemals freiwillig den Knopf drücken. Irgendwie musste es ihr gelingen, die Papiere auch später noch zu vernichten. Nur die Vorstellung, was geschehen würde, wenn der Stempel zum Einsatz kam, berauschte sie. Konnte man so etwas nachstellen? Würde man jemanden finden, der bereit war, den Einsatz zu zahlen? Eine Weile beschäftigte sich Hilde Rensch mit diesem Gedanken. Wie konnte man so etwas bewerkstelligen? Eine Anzeige im Internet, wie bei dem Kannibalen von Rothenburg? Aber wie sollte man dabei anonym bleiben, und wie sollte man an die nötigen Maschinen kommen? Das Gedankenspiel lenkte sie ab, ließ sie ein paar Minuten gewinnen. Wertvolle Minuten. Denn da gab es noch etwas anderes. Etwas, das mit der gleichen Gewissheit wie das Zittern kam, nur um vieles unangenehmer.
Es war die Welle der Ungeduld, der Augenblick der Schwäche. Es war der Drang, sich bewegen zu müssen, sich zu strecken, die Lage zu verändern. Es war das Pochen der geschwollenen Füße und Hände, der Schmerz in Nacken und Schultern.
Hilde Rensch begann wieder zu schreien. Sie verfluchte die unfähige Polizei, die sie nicht fand, ihre Mutter, die sie hasste, und ihren Vater, der sie im Stich gelassen hatte. Sie schrie um Hilfe und bat Wilbur Arndt um Vergebung. Ja, sie bat ihn tatsächlich um Vergebung. Und als sie dann noch zu beten begann, musste sie lachen, denn ihr Gebet galt ihm und all ihren Opfern, die niemals vergessen sollten, was sie ihnen angetan hatte. Und als sie keine Worte mehr fand und die Kraft aus ihrem Körper wich und ihre Finger nach dem Schalter tasteten, hörte sie Schritte.
Zuerst kam Peter Illsen mit vorgehaltener Waffe in den Keller gestürmt. Ihm folgten Kai Mendel und ein Notarzt. Nachdem der Raum gesichert war, öffnete Illsen vorsichtig ihre Fesseln, den bedrohlichen Stempel immer im Blick.
»Bleiben Sie ganz ruhig, Frau Rensch, es ist gleich vorbei«, sagte er und löste den letzten Riemen.
Hilde Rensch starrte ihn ausdruckslos an, dann drückte sie den Knopf. Die Stanze setzte sich augenblicklich in Bewegung, Rensch zog ihre Hände zurück, und Illsen brachte sich in Sicherheit. Beim Auftreffen des Stempels auf die Gegenhalterplatte bebte der Boden und von der Decke löste sich Mörtel. Rensch starrte auf die Vorrichtung, die ihre Unterlagen verbrennen sollte, doch nichts geschah. Illsen folgte ihrem Blick. Rensch sprang auf und schrie Unverständliches, dabei verfing sich ihre Fußfessel, und sie fiel hin. Auf allen vieren kroch sie zu den Unterlagen. Der Notarzt und Illsen hielten sie zurück.
»Ich bin Dr. Bausch«, sagte der Notarzt. »Sie haben sehr viel mitgemacht. Sie müssen sich beruhigen. Ich gebe Ihnen etwas, damit es Ihnen besser geht.«
Hilde Rensch sah die Spritze und wehrte sich mit Händen und Füßen.
»Ich brauch keine Beruhigungsmittel«, schrie sie. »Sie müssen mir die Akten geben. Es sind meine. Arndt, dieses Schwein, hat mich betrogen. Wenn Sie nicht tun, was ich sage, werde ich Sie zur Rechenschaft ziehen.«
Das Eindringen der Spritze
Weitere Kostenlose Bücher