Finnisches Requiem
Wirklichkeit hatte er ja gar keine Wahl: Wenn nicht er den Mörder der beiden Menschen, die er geliebt hatte, umbrachte, dann würde es niemand tun. Zumindest nicht so wie er.
Ljubo hatte beteuert, der vierte Mord werde nach Drinas Anweisungen ausgeführt, egal, was geschah. Man konnte gut verstehen, daß die Mitglieder des Exekutionskommandos ausreichend motiviert waren, denn sie würden ihr Honorar nur erhalten, wenn der vierte Kommissar starb. Pastor hatte Ljubo nichts von den überraschenden Wendungen der letzten vierundzwanzig Stunden erzählt, und Jugović konnte keinen Kontakt zu Ljubo aufnehmen. Es war Pastor sogar gelungen, die Mitglieder des Exekutionskommandos noch zusätzlich zu motivieren: Er hatte ihnen erzählt, ihr Geld würde heute, sofort nach dem Tod des Kommissionspräsidenten, ausgezahlt.
Pastor erreichte den Rathausplatz. Viele Passanten schauten den korrekt gekleideten Gentleman freundlich an. Nach den Regeln Bagheeras hätte er zum Anzug allerdings einen Übergangsmantel tragen müssen, mit verdeckter Knopfleiste, ohne Gürtel. Die Fäden im Oberschenkel spannten, obwohl er sie kurz vor seinem Aufbruch eingecremt hatte. Auf der kahlgeschorenen Kopfhaut spürte er jeden Windhauch deutlicher, als er es je geahnt hätte. Er hatte Magenschmerzen, aber das mußte so sein. Der Himmel schien sich immer mehr aufzuklaren. Pastor hoffte auf einen ebenso prächtigen Rahmen für die Ereignisse dieses Tages wie im Falle derersten drei Morde an den Kommissaren. Er hielt nach Jugović Ausschau. Auf dem Markt herrschte ein reges Treiben. Zum erstenmal seit Jahren hatte er Angst.
Zoran Jugović wartete in der westlichen Ecke des Rathausplatzes auf Pastor, er stand neben einem Springbrunnen aus Kupfer, der einen Stier im Kampf mit einem Drachen darstellte. Eine gute Seite hatten die nordischen Länder immerhin – die Frauen. Wenn eine an ihm vorüberging, dann schaute er sie an, und bekam er Blickkontakt, dann forderte er die Schöne zum Flirt heraus. Einige vielversprechende Runden waren ihm schon gelungen. Er wußte, daß er gut aussah, er hatte sich noch rasieren und waschen können, bevor der verrückte Finne aufgetaucht war. Wenn Zeit blieb, würde er in Kopenhagen die Engeltätowierung entfernen lassen: Hier gab es einen plastischen Chirurgen, der sich dieser Sache verschrieben hatte. Danach wäre an ihm nichts mehr auszusetzen.
Die Turmuhr des Rathauses zeigte drei Uhr an, das Dröhnen der Kirchenglocken war erst ganz nah, dann weiter weg und schließlich überall zu hören. Er wartete schon zweieinhalb Stunden. Hatte sich Pastor aus dem Staub gemacht? Vielleicht war dem Mann das Herz in die Hosen gerutscht, als das Treffen mit Attila Horvát näherrückte. Jugović hatte in der Welt des Verbrechens und des Krieges viele seltsame Menschen getroffen, aber keinen, der dem Finnen glich. Sein psychotischer Blick und sein ruhiges Verhalten bildeten eine eigenartige Kombination. Eines war ihm klar, Pastor hatte irgendeinen schweren Schaden. Der Mann forderte ihn heraus, und es schien so, als würde er auch Attila Horvát herausfordern. Das war nicht sehr klug, könnte aber für Jugović nützlich sein.
Ein Glück, daß Pastor ihn gefunden hatte. Jetzt war er sich nämlich sicher, daß Horvát und Reimer etwas imSchilde führten. Er mußte das Geld im voraus bekommen, denn er besaß keinerlei Garantie dafür, daß er nach dem vierten Mord an dem Kommissar sein Honorar erhielt und nicht nur einen Zementmantel.
Immer mehr Menschen bevölkerten den Platz und die angrenzenden Straßen, die ersten mit gleitender Arbeitszeit hatten schon Feierabend. Jugović wollte auf dem Rathausplatz warten, hier herrschte immer viel Betrieb. Es wäre ihm ein leichtes gewesen, Pastor abzuschütteln, aber er wollte es nicht. Der Finne wußte, wo Ljubo und das Exekutionskommando zu finden waren, und könnte im Notfall Kontakt zu ihnen aufnehmen. Und Jugović mußte sich auch eingestehen, daß er lieber zusammen mit dem verrückten Finnen zu dem Treffen mit Horvát ging als allein. Wer weiß, vielleicht könnte er Pastor zum Sündenbock machen.
Die Neuigkeiten von heute ergaben für Jugović einfach kein sinnvolles Ganzes. Warum arbeitete Reimer nun mit Horvát zusammen? Bezahlte der Schweizer Horvát, damit der den vierten Mord erledigte? Vielleicht hatte Reimer genug von den stümperhaften Fehlern des Exekutionskommandos? Jede dieser Alternativen erschien ihm unsinnig. Warum zum Teufel konnte der Schweizer nicht noch ein
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