Firelight 1 - Brennender Kuss (German Edition)
könnte ich ihr von Will erzählen. Ihr gestehen, wie viel ich an diesem Tag in der Höhle tatsächlich aufs Spiel gesetzt habe … und eingestehen, wie viel ich auch jetzt riskiere. Ich könnte ihr alles gestehen, hier in diesen stinkenden Toiletten.
Tamra schaut mich prüfend an. »Kommst du klar? Soll ich Mum anrufen?«
Ich denke darüber nach. Was würde Mum wohl sagen, wenn ich ihr alles erzählte? Wie würde sie reagieren? Die Antwort ist mir sofort klar: Sie würde uns auf der Stelle von der Schule nehmen – aber nicht, um uns zurück zum Rudel zu bringen, oh nein! Sie würde uns nur in eine neue Stadt schleifen, in eine neue Schule in einer anderen Wüste! In einer Woche dürfte ich mir diesen vermaledeiten ersten Tag aufs Neue antun – würde unter der Hitze und dem Klima irgendwo anders leiden – irgendwo, wo es keinen gut aussehenden, aufregenden Jungen gibt.
Einen Jungen, dessen bloße Anwesenheit meinen Draki aufgeweckt hat. Den Teil in mir, der sich seit unserer Flucht aus den Bergen nicht mehr lebendig gefühlt hat. Wie könnte ich das aufgeben? Wie könnte ich ihn aufgeben?
Tamra schüttelt sich ihre geglättete Mähne von den Schultern und sieht mich durchdringend an. »Ich glaube, wir sind noch mal davongekommen.« Sie hält mir einen Finger ins Gesicht. »Aber geh ihm gefälligst aus dem Weg, Jacinda! Am besten, du siehst ihn noch nicht mal an. Zumindest nicht, solange du dich nicht besser unter Kontrolle hast. Mum meint, dass es nicht mehr lange dauern sollte, bis …« Sie muss wohl etwas in meinem Gesicht gesehen haben, denn sie wendet den Blick ab. »Tut mir leid«, nuschelt sie.
Weil sie meine Schwester ist und mich lieb hat, sagt sie das. Nicht, weil sie es ernst meint. Sie will genauso wie Mum, dass mein Draki stirbt. Will, dass ich normal bin. So wie sie. Damit wir gemeinsam ein normales Leben führen und solche Sachen wie Cheerleading machen können.
Mir krampft sich der Magen zusammen und ich nehme ihr meine Bücher ab. »Wir sind spät dran.«
»Bestimmt drücken sie für uns ein Auge zu – immerhin sind wir neu«, entgegnet Tamra.
Ich nicke nur und knibble an dem enormen Eselsohr in meinem Geometriebuch herum. »Sehen wir uns in der Mittagspause?«
Tamra dreht sich zum Spiegel und begutachtet ihre Frisur. »Vergiss nicht, was ich gesagt habe.«
Ich halte inne und starre auf ihr wunderschönes Spiegelbild. Wirklich kaum zu glauben, dass ich die Zwillingsschwester eines so aufgestylten Mädchens bin.
Sie lässt sich eine perfekte Strähne ihres rotgoldenen Haars über die Schulter fallen, dessen Ende sich leicht wellt. »Halt dich von diesem Typen fern!«
»Schon verstanden«, stimme ich ihr zu, aber als ich auf den verlassenen Gang hinausgehe, bleibe ich stehen und sehe mich nach rechts und links um.
Suchend. Hoffend. Bangend.
Aber er ist fort.
6
I n der Mittagspause verstecke ich mich. Ganz schön feige, ich weiß, aber als ich die Flügeltür zur Cafeteria vor mir sah, wurde mir schon von dem Lärm dahinter ganz schlecht. Ich konnte den Gedanken, dort reinzugehen, einfach nicht ertragen.
Stattdessen schlendere ich durch die Flure und ignoriere mein schlechtes Gewissen, weil ich Tamra allein lasse. Eigentlich glaube ich, dass es ihr nichts ausmacht. Immerhin hat sie seit unserer Kindheit auf diesen Tag gewartet – seit ich mich zum ersten Mal verwandelt habe und sie nicht. Seitdem Cassian sie nicht mehr beachtet hat und für sie zu einem Traum wurde, der niemals wahr werden wird.
Schließlich finde ich die Bibliothek. Ich atme den Geruch staubiger Bücher ein und genieße die Stille. Dann lasse ich mich auf einen Stuhl in der Nähe eines Fensters sinken, das zum Hof schaut, und lege meinen Kopf auf die kühle Tischplatte, bis die Pausenglocke läutet.
Der Rest des Tages rauscht wie ein Traum an mir vorbei, und als ich zur letzten Unterrichtsstunde antrete, bin ich erleichtert. Fast geschafft!
In der siebten Stunde ist »stille Beschäftigung« angesagt, die zum Lernen gedacht ist – tatsächlich ist die Klasse voller Leute, die Sport entweder abgewählt haben oder nicht die nötige Durchschnittsnote schaffen, um sich dafür zu qualifizieren. Das erfahre ich von Nathan, der mir seit der fünften Stunde wie ein Schatten folgt.
Er setzt sich auf den Platz neben mir und bei jedem Wort spritzt ihm feiner Speichel von den wulstigen Lippen. »Also, Jacinda. Was stimmt nicht mit dir?«
Ich blinzle verdattert und weiche ein Stück vor ihm zurück, bevor der Groschen
Weitere Kostenlose Bücher