Fische füttern - Genovesi, F: Fische füttern - Esche Vive
eine Angewohnheit, er macht es nicht extra, aber beim Essen ekelt es mich oft ein bisschen. Ich bin nicht zimperlich, zu Hause sind wir vier Brüder, zwei sind älter als ich, und die stellen beim Essen alles Mögliche an, ehrlich. Aber bei Signor Roberto stört es mich sehr, dass er mir beim Essen erklärt, was ich beim Rennen machen soll oder wie wir am nächsten Tag trainieren. Denn er spricht immer mit vollem Mund, und dann sieht man das ganze gekaute Essen. Und genauso beim Trinken, er trinkt und redet, dann stellt er das Glas ab, und im Wasser schwimmen zerkaute Essensreste. Wenn ich das sehe, wird mir immer ganz übel.«
Keine Ahnung, was diese Geschichte mit dem Kater-Sylvester-Glas zu tun hat, aber mal sehen, worauf er hinauswill.
»Und deshalb ist es mir manchmal sogar unangenehm, aus einem gespülten Glas zu trinken, weil ich mir vorstelle, dass Signor Roberto es benutzt hat und diese zerkauten Essensreste da drin geschwommen sind. Eines Tages hab ich dann in den Küchenschrank geguckt und ganz hinten dieses Kater-Sylvester-Glas entdeckt. Ich war mir sicher, dass Signor Roberto es noch nie benutzt hatte, also hab ich’s rausgenommen und beschlossen, nur noch daraus zu trinken, und abends nehme ich es sicherheitshalber mit in mein Zimmer.«
Eigentlich ist es ja mein Zimmer, aber diesmal verzichte ich auf die Klarstellung. Ich bin mir nämlich nicht sicher, ob die Geschichte schon zu Ende ist.
»Ist das alles? Deshalb benutzt du dieses Glas?«
»Ja, warum?«
»Ist das dein Ernst, oder ist das wieder so ein Scheiß von dir?«
»Nein, ich schwör’s, ich schwör’s wirklich.« Er legt die Zeigefinger über Kreuz und berührt sie mit den Lippen. Als ich klein war, hab ich das auch gemacht. Jetzt, mit nur einem Zeigefinger, will es mir nicht mehr so recht gelingen.
»Konntest du das nicht gleich sagen?«
»Ich … ich hatte Angst, dass Sie gekränkt sind, wenn ich das mit Ihrem Vater erzähle.«
»Was geht mich mein Vater an. Kapier doch endlich, dass er mir scheißegal ist.«
»Ja, Verzeihung, Signore, das haben Sie mir schon mal gesagt, aber ich hab nicht diesen Eindruck, und … da wusste ich eben nicht, wie ich mich verhalten soll.«
»Welchen Eindruck meinst du? Dass mein Vater mir scheißegal ist?«
»Ja, genau, ich hab nicht diesen Eindruck.«
»Woher willst du das denn wissen, Mann? Du bist eine kleine Rotznase, kommst vom Arsch der Welt und willst besser über mich Bescheid wissen als ich selber? Mir ist mein Vater völlig egal, ich …«
»Ich glaub’s ja, Signore, ich glaub’s ja. Ich hab ja nur gesagt, dass ich diesen Eindruck nicht hab, aber wenn Sie es sagen, ist es bestimmt so. Also Pardon, und entschuldigen Sie auch, wenn ich Sie unterbreche, aber ich bin wirklich neugierig auf die Geschichte mit den Alten und der Riesenpuppe. Entschuldigung.«
»Nichts Entschuldigung! Für meinen Geschmack spielst du hier langsam zu sehr den Klugscheißer. Ich erzähl dir jetzt gar nichts.«
Mirko senkt den Kopf, schaut unter den Locken hervor und kriegt wieder den Blick von einem Vögelchen auf dem Jahrmarkt.
»Schade, Signore, das bedaure ich, weil es mich wirklich sehr interessiert«, sagt er.
Und jetzt weiß ich plötzlich, an welche Vögel er mich erinnert: an die Prachtfinken, genauer an das Goldbrüstchen. Sie sind die allerkleinsten ihrer Art und werden in diesen winzigen Käfigen gehalten, so dicht gedrängt, dass bei jedem Jahrmarkt welche draufgehen. Zwei oder drei sitzen immer starr auf der untersten Sprosse, mit eingezogenem Köpfchen und ganz zittrig. Wer weiß, wo sie die hinwerfen, wenn sie tot sind. Vielleicht verfüttern sie sie an andere Tiere. Jedenfalls hab ich jetzt eines hier vor mir, vielleicht ist er aber auch einfach nur ein unheimlich gewiefter Schauspieler und ein Hurensohn sondergleichen. Aber als ich ihn jetzt anschaue, schaffe ich es einfach nicht, ihm weiter böse zu sein, im Gegenteil. Absurderweise löst sich meine Zunge, und es sprudelt nur so aus mir heraus.
So drösele ich ihm die ganze Story von der Puppe am Friedhofstor und von dem Igel und der vermeintlichen Anti-Senioren-Gang auf und kann gar nicht mehr damit aufhören. Ich bin in voller Fahrt und erzähle Dinge, die kaum mehr etwas mit dieser Geschichte zu tun haben, und dann andere, die rein gar nichts damit zu tun haben und die ich noch nie jemandem erzählt habe.
Manche Wörter bleiben tief in einem drin, ein Leben lang, ohne je rauszukommen. Aber sie sind wie auf einer Schnur
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