Fische füttern - Genovesi, F: Fische füttern - Esche Vive
aufgefädelt, und wenn ein Wort sich löst und heraussprudelt, rutschen die anderen nach wie bei einem Wasserfall.
MUTTERHERZ
Die schlimmste Strafe, die du dir selbst auferlegen konntest, ist ein Besuch bei deinen Eltern. Ganz besonders heute, wo dein Vater nicht da ist und ihr beide, deine Mutter und du, allein am Küchentisch sitzt.
Das Haus ist groß – vier Zimmer, zwei Bäder, ein Lagerraum und ein großes Wohnzimmer –, aber deine Mutter hält sich ausschließlich in der Küche auf. Es ist der einzige Ort, an dem sie arbeiten könnte , auch wenn sie es jetzt gerade mal nicht tut. Hier fühlt sie sich am wenigsten schuldig.
Ganz ähnlich hast du dich verhalten, wenn während deines Studiums eine Prüfung anstand. Von sieben Uhr morgens bis um eins warst du am Schreibtisch, und nach einer kurzen Mittagspause ging es weiter bis um acht. Nach dem Abendessen hast du nie gelernt, die Konzentration war weg, doch wenn dich jemand gefragt hat, ob du mit ins Kino kommst, hast du trotzdem abgelehnt, denn abends nicht über den Büchern zu brüten ist ja okay, aber auszugehen ist was ganz anderes, da hättest du ein schlechtes Gewissen gehabt.
O ja, in diesem Punkt bist du deiner Mutter ziemlich ähnlich. Und jedes Mal wenn du eine solche Ähnlichkeit feststellst, steht dir das Herz still.
»Er ist ständig unterwegs, ständig«, sagt sie jetzt. »Er lässt keinen einzigen Markt aus, und wenn’s mal keinen Markt gibt, ist bestimmt irgendwo ein Volksfest oder ein Radrennen. Hauptsache, er muss nicht zu Hause bleiben.«
»Ja, schon, Mama, aber es ist seine Arbeit, und die macht er gut. Sieh mal, das Haus …«
»Mag sein, aber er könnte sich doch längst zur Ruhe setzen. Wir haben ein bisschen Geld zurückgelegt, er könnte wirklich aufhören.«
»Anscheinend macht ihm die Arbeit aber immer noch Spaß.«
»Ach, hör auf, ich weiß schon, was ihm Spaß macht.« Es folgen zwei schwere Seufzer, wie sie ein Taucher ausstößt, der aus der Tiefe des Meeres auftaucht und Luft holt. Zur Bekräftigung ihrer unausgesprochenen Gedanken nickt sie heftig.
Meine Mutter ist nur mehr Haut und Knochen, ihre grauen Haare sind zu einem überdimensionalen Popcorn hochgesteckt, die Gesichtshaut so dünn und welk, dass man Angst hat, sie könnte schon bei der geringsten Andeutung eines Lächelns reißen. Aber diese Gefahr besteht nicht, denn das letzte Mal, dass meine Mutter gelacht hat, war an einem Samstagabend im September 1990.
Du warst knapp dreizehn und hast das Bild noch gut vor Augen. Im Fernsehen trat Gigi Sabani auf, und deine Mutter muss an diesem Abend richtig gut drauf gewesen sein. Irgendwann im Verlauf der Sendung setzte sich Gigi Sabani eine Riesenbrille à la Mike Bongiorno auf und schwenkte Mike Bongiornos Moderationskarte, und als er ans Mikrofon stürzte, wussten alle, sogar du mit deinen dreizehn Jahren, was er gleich sagen würde. Aber als Sabani den Arm hob, nah ans Mikrofon heranging und Allegriaaaaa brüllte, fing deine Mutter so laut und ausgelassen an zu lachen, wie du es noch nie erlebt hattest. Du und dein Vater, ihr habt euch ganz erschrocken angeschaut, und in der Tat hat sich dieses spektakuläre Ereignis seit jenem Samstagabend im Jahr 1990 nicht mehr wiederholt.
Und jetzt, urplötzlich, schnürt dir ein schockierender Gedanke die Kehle zu: Am Tag dieses einmaligen Gelächters deiner Mutter war Fiorenzo noch nicht einmal geboren. Du warst dreizehn, hattest eine stattliche Sammlung von Musikkassetten, dein Lieblingsbuch war Das Tagebuch der Anne Frank , und du hattest Minderwertigkeitskomplexe, weil du fast die Einzige in der Klasse warst, die noch nie mit einem Jungen geknutscht hatte. Und Fiorenzo war noch nicht mal auf der Welt. Herr im Himmel …
»Und weißt du, was dein lieber Papa jetzt vorhat?«, unterbricht deine Mutter mit ihrer näselnden Stimme deine Gedanken. Diesmal tut sie dir damit sogar einen Gefallen. »Er will in Zukunft auch nachts arbeiten. In Montecatini gibt es Nachtlokale, sagt er, und wenn die Leute da rauskommen, haben sie Hunger, und er kann eine Menge belegte Brötchen verkaufen. Aber ich weiß natürlich, was es dort gibt.«
»Was denn?«, fragst du, obwohl du es ganz genau weißt.
»Das weißt du ganz genau, Tiziana. Was ist in Montecatini?«
»Keine Ahnung, die Thermen?«
»Nein.«
»Die Pferderennbahn?«
»Stell dich nicht dumm. In Montecatini sind die Nutten. Und dein Vater will nachts dorthin, verstehst du? Wo die russischen Nutten die Familienväter
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