Fischer, wie tief ist das Wasser
wusste, dass Ben mir keine Märchen auftischte, und wenn «inPharm» auf solchen Ebenen experimentierte, dann würde das Ganze hier mehr als nur ein Spiel sein, so wie ich es vorhin noch gedacht hatte. Es war gnadenloser Ernst, bei dem viel Geld auf dem Spiel stand.
Heute war Freitag. Ein Freitagabend im Sommer inmitten von gut gelaunten Menschen in einem wunderbaren Garten. Ich hatte ein Glas kühlen Weißwein in der Hand und wünschte wirklich, ich müsste nicht all diesen Gedanken nachhängen: Liekedeler spielte falsch, manipulierte die ärztlichen Gutachten ihrer Schützlinge, hatte Kontakte zu einflussreichen Wissenschaftlern, die sich mit Gehirnforschung beschäftigten. Doch so sah es aus. Daran gab es keinen Zweifel. Und wenn ich noch so sehr wollte, es ließ sich nicht beschönigen, dass in dieser kleinen, heilen Welt rund um das Kartoffelfeuer etwas ganz und gar nicht stimmte.
Silvia Mühring konnte wunderbar Gitarre spielen. Schon als sie die ersten Akkorde zupfte, summten einige mit.
Sjard holte gerade eine neue Flasche Bier und steuerte direkt auf mich zu. Ich rückte auf der schmalen Klappbank ein wenig zur Seite, um ihm Platz zu machen, doch dann zupfte Veronika Schewe an seinem Hemd und zog ihn zu sich hinüber. Sie trug heute Abend Jeans und ein graues Baumwollshirt. Es stand ihr gut, sie wirkte Jahre jünger. Doch mir war aufgefallen, dass sie mich mied. Aus kleinen, feinen Details konnte ich mir zusammenreimen, dass sie unser Gespräch vom Nachmittag noch nicht verdaut hatte. Das hatte
ich
auch nicht, doch ich gab mir alle Mühe, mir nichts anmerken zu lassen, und überspieltemeine Befangenheit mit freundlichen, unverbindlichen Sätzen, die ich wie Pfeffer und Salz in die Runde streute.
Kurz blickte ich zu Sjard hinüber, er nickte ernsthaft und schien sich voll auf das Gespräch mit Veronika Schewe einzulassen. Der Blick tat mir weh. Wäre ich doch nie ins Archiv geschlichen. Ich hätte nie erfahren, dass Sjard Dieken der Günstling eines geschäftstüchtigen Pharmakonzernleiters war. Er hatte heute Abend mit den Kindern kleine Kartoffelfiguren geschnitzt und sich als wunderbarer Lagerfeuergeschichten-Erzähler entpuppt. Bei jedem Lachen der Kinder hatte ich mitgemacht, hatte mich bereit erklärt, eine ganze Kartoffel in den Mund zu schieben und Sjards Sätze nachzusprechen. Unsere Blicke waren sich heute Abend schon oft begegnet und wir hatten länger geschaut, als es nötig gewesen wäre. Ich wollte nicht glauben, dass Sjard ein anderer Mensch war als der, für den ich ihn gehalten hatte. Wir waren uns so ähnlich, wir liebten die Kinder, wir wollten sie alle zum Lachen bringen.
Ich stand auf, schenkte mir an der Verandatreppe mehr Wein ein, und weil ich keine große Lust verspürte, zum Feuer zurückzukehren, blieb ich einfach stehen und betrachtete das Spiegelbild der Flammen in den Fensterscheiben.
Ein dumpfer Knall erreichte mein Ohr und ich zuckte zusammen. Ein Blick über die Schultern verriet mir, dass lediglich eine wackelige Bank umgefallen war, als zwei Kinder gleichzeitig aufstehen wollten. Doch das Geräusch erinnerte mich an den bösen, brutalen Angriff, den ich heute durch die Milchglasscheibe im Keller mitbekommen hatte. Jetzt lachten die Kinder glockenhell und lustig über die Freunde, die mit der Bank ins Gras gefallen waren.
Mich fröstelte, obwohl es eigentlich noch viel zu warm dazu war. Zwei Hände legten sich von hinten auf meine Schultern.Ich brauchte mich nicht umzuschauen, ich wusste: Es war Sjard.
«Warum sitzen Sie nicht bei uns?», fragte er.
«Ach, ich bin müde. Zu viel Wein …», log ich. Ich drehte mich um und schaute ihn an. Es fiel mir nicht schwer, seinem Blick standzuhalten.
«Wir sollten reden», sagte er.
«Ja», erwiderte ich schwach, kaum hörbar.
«Kommen Sie?» Er lud mich mit einer Geste in Richtung Auffahrt ein und ich folgte.
Ich hörte ein kurzes, albernes Pfeifen und Johlen aus der Ecke der Kinder, natürlich fanden sie es spannend, dass zwei Erwachsene, die eigentlich nichts miteinander hatten, gemeinsam in die Nacht hinausliefen.
Ich hätte mich umdrehen und ihnen fröhlich zuwinken können, doch ich tat es nicht. Ich hatte keine große Lust, Veronika Schewes Blick zu begegnen. Ich ahnte, dass er nicht besonders freundlich ausfallen würde.
Wir gingen auf dem Kies ein paar knirschende Schritte weiter und traten aus dem Lichtkegel des Kartoffelfeuers heraus.
Er blieb stehen, als wir sicher sein konnten, dass uns keiner beobachten
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