Fitz der Weitseher 03 - Der Nachtmagier
seinem Bruder Veritas den Thron geraubt zu haben. Es war schlicht und einfach Rachedurst, der mich antrieb. Wenn ich je von Furcht und Scham frei sein wollte, musste ich meinen Plan durchführen.
Du kannst jetzt hereinkommen, lud ich Nachtauge ein.
Weshalb sollte ich das wollen?
Ohne den Kopf zu wenden, wusste ich, dass er bereits herangekommen war. Er setzte sich neben mich, dann spähte er ins Innere der Hütte.
Puh! Bei dem Gestank, mit dem ihr eure Höhlen erfüllt, ist es ein Segen, dass eure Nasen so erbärmlich schlecht sind.
Vorsichtig kroch er über die Schwelle und begann den Innenraum peinlich genau zu untersuchen. Es war lange her, seit ich ihn zuletzt als selbstständiges Wesen empfunden hatte, nicht nur als Erweiterung meiner selbst. Inzwischen war er voll ausgewachsen und auf dem Höhepunkt seiner Kraft. Ein Unbeteiligter hätte wohl gesagt, er sei ein grauer Wolf; ich sah an ihm dagegen jede Färbung, die ein Wolf haben konnte. Dunkle Augen, dunkle Schnauze, lohfarben am Ansatz von Ohren und Kehle, das Fell durchsetzt mit steifen, schwarzen Stichelhaaren, besonders an Schultern und Flanken. Die Pfoten waren riesig und spreizten sich beim Laufen über Schnee zu wahren Tatzen. Sein Schwanz war ausdrucksvoller als das Gesicht so mancher Frau; Zähne und Kiefer vermochten mühelos den Schenkelknochen eines Rehs zu knacken. Er bewegte sich mit der federnden, sparsamen Kraft eines vor Gesundheit strotzenden Tieres. Ihm nur zuzusehen war Balsam für mein Herz. Sobald seine Neugier einigermaßen gestillt war, ließ er sich neben mir nieder. Nach einer Weile streckte er sich aus und schloss die Augen. Hältst du Wache?
»Ich halte Wache«, versicherte ich ihm. Seine Ohren zuckten bei den gesprochenen Worten, dann sank er in einen sonnengetränkten Schlummer.
Ich erhob mich leise und ging in die Hütte. Die Bestandsaufnahme meiner Besitztümer nahm bemerkenswert wenig Zeit in Anspruch. Zwei Decken und ein Umhang, Kleidung zum Wechseln, darunter allerdings warme Sachen aus Wolle, die schlecht geeignet für Reisen im Sommer waren. Eine Bürste. Messer und Wetzstein. Feuerstein. Eine Schleuder. Mehrere gegerbte Häute von Wild, das wir erlegt hatten. Schnur aus Sehnen. Ein Handbeil. Ein kleiner Kessel und mehrere Löffel, die von Burrich geschnitzt waren. An Proviant hatte ich je einen kleinen Beutel Hafergrütze und Weizenmehl. Den übrig gebliebenen Honig. Eine Flasche Holunderbeerwein.
Nicht viel, um meinen Rachefeldzug in Angriff zu nehmen. Bevor ich in Burg Fierant meine Pläne in die Tat umsetzen konnte, musste ich doch zunächst die lange Reise dorthin wohlbehalten überstehen. Ich überlegte. Noch hatten wir Anfang Sommer. Mir blieb reichlich Zeit, um Kräuter zu sammeln und zu trocknen, Fisch und Fleisch zu räuchern. Hungern brauchte ich also nicht. Fürs Erste besaß ich Kleidung und das Nötigste an Ausrüstung, doch irgendwann würde ich Münzgeld brauchen. Ich hatte vor Chade und Burrich geprahlt, dass ich mich aus eigener Kraft durchschlagen könnte. Immerhin verstand ich etwas von Tieren und von der Kunst des Schreibens. Vielleicht brachten diese Fähigkeiten mich bis Fierant.
Als FitzChivalric hätte ich es leichter gehabt. Ich kannte den einen oder anderen Flussschiffer und hätte mir die Passage nach Fierant verdienen können. Aber FitzChivalric war gestorben. Er konnte schlecht an den Docks nach Arbeit fragen. Ich durfte mich dort noch nicht einmal blicken lassen, wegen der Gefahr, erkannt zu werden. - Wirklich? Was hatte Burrichs Spiegel mir denn gezeigt? Eine weiße Haarsträhne entlang dem Riss in meiner Kopfhaut. Ich befühlte die neue Form meiner Nase, die Narbe an meiner rechten Wange, unterhalb des Auges, wo Edels Faust mir die Haut aufgerissen hatte. Niemand kannte einen Fitz mit solchen Narben. Ich konnte mir einen Bart wachsen lassen. Und wenn ich mir den Haaransatz rasierte, wie es die Schreiber taten, genügte das vielleicht, um in der Menge unerkannt zu bleiben. Menschen, die mich gekannt hatten, ging ich dagegen wohl besser aus dem Weg.
Wie es aussah, blieb mir nichts anderes übrig, als mich zu Fuß fortzubewegen. Ich hatte allerdings noch nie eine solch lange Reisewanderung unternommen.
Warum können wir nicht einfach hierbleiben? Eine schläfrige Frage von Nachtauge. Fische im Bach, Wild in den Wäldern hinter der Hütte. Was brauchen wir mehr? Weshalb müssen wir fortgehen?
Ich muss gehen. Ich muss es tun, um wieder ein Mensch zu sein.
Du hast wirklich den Wunsch,
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