Fitz der Weitseher 03 - Der Nachtmagier
Ruck, oder du erlebst nicht mit, wie Veritas den Drachen erweckt.«
Sie regte sich träge. »Das ist tatsächlich ein Grund. Für weniger würde ich mich um nichts in der Welt erheben. Außerdem, es ist womöglich meine letzte Gelegenheit für ein großes Lied. Das Schicksal hat mir bisher gnadenlos bestimmt, regelmäßig woanders zu sein, wenn du etwas Bemerkenswertes tust.«
Ich konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen. »So, so. Demnach wird es keine Lieder über Chivalrics Bastard geben?«, neckte ich sie.
»Eines vielleicht doch. Ein Liebeslied.« Sie schenkte mir ein letztes geheimnisvolles Lächeln. »Da war zumindest noch etwas sehr bemerkenswert.«
Ich stand auf und zog sie mit mir. Ich küsste sie. Nachtauge winselte ungeduldig, und Merle drehte sich in meinen Armen rasch zu ihm herum. Er streckte sich und verbeugte sich dabei tief vor ihr. Als sie sich wieder mir zuwandte, machte sie mir ganz große Augen.
»Ich habe dich gewarnt«, sagte ich.
Sie lachte nur und bückte sich, um unsere Kleider aufzuheben.
KAPITEL 39
VERITAS’ DRACHE
T ruppen der Streitkräfte der Sechs Provinzen schifften sich in Blauer See zum Westufer ein, um von dort zur Grenze des Bergreichs zu marschieren. Das war genau in den Tagen, als die Roten Schiffe den Vinfluss hinauffuhren und sich Fierant näherten. Fierant war nie eine befestigte Stadt gewesen. Obwohl die Nachricht von ihrem Kommen ihnen vorauseilte, ließ man sich davon nicht aus der Ruhe bringen. Welche Bedrohung stellten schon zwölf Boote mit einer Besatzung aus lauter Barbaren für eine so große Stadt wie Fierant dar? Die Stadtwache wurde in Alarmbereitschaft versetzt, etliche Kaufleute am Hafen trafen Vorkehrungen, ihre Waren aus Lagerschuppen dicht am Wasser wegzuschaffen, aber im Allgemeinen war man der Ansicht, dass, falls es den Korsaren überhaupt gelingen sollte, so weit flussaufwärts vorzudringen, Bogenschützen mit den Piraten kurzen Prozeß machen würden, bevor sie größeren Schaden anrichten konnten. Man vermutete, dass die Schiffe kamen, um mit dem König der Sechs Provinzen eine Art Waffenstillstand auszuhandeln. Es gab Diskussionen darüber, zu welchen Konzessionen man sich bereitfinden und wie viel man davon an sie abtreten könnte. Von anderer Seite wurde diskutiert, wie lohnenswert eine Wiederaufnahme der Handelsbeziehungen zu den Äußeren Provinzen wäre. Ganz zu schweigen davon, dass man sich die Hände rieb, weil endlich der Warenverkehr auf dem Bocksfluss wieder in Gang kommen würde.
Dies nur als ein weiteres Beispiel für die Fehleinschätzungen, zu denen es kommt, wenn man ganz genau zu wissen glaubt, worauf der Feind es abgesehen hat und gemäß dieser Annahmen handelt. Die Bürger von Fierant unterstellten den Roten Korsaren einfach denselben Wunsch nach Reichtum und Besitz, von dem ihr eigenes Denken und Handeln vollkommen bestimmt wurde. Bei ihrer Beurteilung der herannahenden Gefahr durch die Piraten dieses Motiv zugrunde zu legen war jedoch ein tragischer Irrtum.
Ich glaube nicht, dass Kettricken sich bewusstgemacht hatte, dass Veritas sterben musste, damit der Drache sich erheben konnte. Jedenfalls nicht bis zu dem Augenblick, als er sie zum Abschied küsste. Er küsste sie mit größter Vorsicht, Arme und Hände weit von sich gestreckt, den Kopf zur Seite gelegt, damit kein silberner Fleck ihr Gesicht berührte. Trotz alledem war es ein zärtlicher Kuss, ein hungriger Kuss und ein langer Kuss. Noch für einen letzten Augenblick klammerte sie sich an ihn. Dann sagte er leise etwas zu ihr. Sofort legte sie beide Hände auf ihren Leib. »Was macht dich so sicher?«, fragte sie, während ihr Tränen an den Wangen herunterflossen.
»Ich weiß es«, sagte er entschieden. »Und deshalb muss meine erste Pflicht sein, dich nach Jhaampe zu bringen. Du darfst nicht neuerlich Gefahren und Strapazen ausgesetzt sein.«
»Mein Platz ist in Bocksburg«, wandte sie ein.
Ich erwartete, dass er widersprach, aber: »Du hast Recht. So sei es. Dorthin werde ich dich tragen. Leb wohl, mein Herz.«
Kettricken gab keine Antwort. Als Veritas sich von ihr abwandte und ging, standen ihr Ratlosigkeit und Erstaunen ins Gesicht geschrieben.
Ungeachtet all der Tage, die wir damit verbracht hatten, auf dieses Ziel hinzuarbeiten, wirkte zu guter Letzt alles überhastet und zerfahren. Krähe wanderte neben dem Drachen auf und ab. Sie hatte sich beiläufig von uns allen verabschiedet, als wäre sie schon nicht mehr ganz von dieser Welt. Nun hatte
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