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Fix und forty: Roman (German Edition)

Fix und forty: Roman (German Edition)

Titel: Fix und forty: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rhoda Janzen
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Virginia, nutzten jede Gelegenheit, um die Rivalität zwischen den Wolken und den Tornados künstlich anzuheizen. Wir mussten Staffel laufen, Slogans singen und geheime Losungswörter erfinden. In strengen Formationen salutierten wir mit geheimen Grußparolen. Auch wenn ich damals noch nicht mit der manierierten Architektur des Dritten Reichs vertraut war, hatte diese KiBiWo eine Riefenstahl-Ästhetik, die mir Gänsehaut bereitete. Die Athleten für Christus hatten den Zweck dieses Camps offensichtlich fehlinterpretiert. Deshalb zwangen sie uns auch, Poster zu entwerfen.
    Mit der Arbeit an meinem Poster verbrachte ich einen ganzen Nachmittag. Es sollte Pop-Art sein, sehr cool, mit bläulichen Wolken, die wie grasende Schafe über dem Himmel verteilt waren. Ich umrahmte jede Wolke mit silberner Metallic-Farbe. Die Überschrift lautete: EIN SILBERSTREIF AN JEDER WOLKE. »Mir gefällt der S-s-s-s-silberstreif«, sagte Wyatt.
    Doch am selben Abend, als der christliche Athlet der Wolkengruppe aufstand, um zum Salut zu rufen und die Poster vorzustellen, fand eine jähe Verschiebung meiner Weltsicht statt. Es war, als würde ich plötzlich aus dem Referenzrahmen purzeln, in dem ich aufgewachsen war. Als der Athlet für Christus dort vorne im Gemeindesaal mein Poster aufstellte, sah ich es auf einmal in neuem Licht. Obwohl meine Wolkenkameraden jubelten und klatschten und mit den Füßen trampelten, obwohl der Athlet für Christus sich in Siegerpose warf, verpuffte in mir der letzte Rest von Begeisterung, und ich wurde zu einer leeren Wolke. Auf meinem metallenen Klappstuhl neben Wyatt Reed, mit dreizehn Jahren, den Pony mit Haarspray auftoupiert, begriff ich zum ersten Mal in meinem Leben, was Gruppendenken war. Wolken als Schafe? Silberstreif? Mein Poster war völlig unsinnig . Und wenn schon mein Poster unsinnig war, was war dann mit der Rivalität, für die es stand? Was war dann mit der ganzen Kinderbibelwoche? Was war mit Religion an sich? Wolken, Tornados, Sünden wirbelten durcheinander – ein Propagandasturm wie er im Buche stand! In diesem Moment begriff ich zum ersten Mal, was Tennessee Williams meinte, als er vom »winzigen Spasmus der Menschheit« sprach. Der sanfte Wyatt Reed, der schüchtern versuchte, meine Hand zu berühren, versank in Bedeutungslosigkeit. Gegenüber, auf der Tornado-Seite des Gangs, hob Aaron die Hand zum rituellen Gruß. Er, mein eigener Bruder, bewegte sich und sprach wie ein Fremder.
    Abends, als der letzte Jubel verhallte, rannte ich auf die Mädchentoilette, um mit meiner beunruhigenden neuen Erkenntnis allein zu sein. Ich blieb dort eine Weile, kämmte mir langsam das Haar, zählte einhundert Bürstenstriche. Ich saß auf der Kante des Sofas, auf dem Mütter tagsüber ihre Babys stillten. Im Spiegel sah ich meinen braven Look, das saubere Kleid, die ordentliche Makramee-Tasche, meine weiße, ledergebundene King-James-Bibel. Doch das Bild stimmte nicht mehr. Ich musste mir diesen Ausdruck höflicher Fügsamkeit vom Gesicht wischen; ich musste weglaufen. Ich musste jede einzelne Tatsache überdenken, die ich je gelernt hatte. Ich rannte aus der Damentoilette, als würde ich vor einem Gedanken weglaufen, der zu furchterregend war, um vertieft zu werden. Und prallte gegen einen der christlichen Athleten. Im Flur war es dunkel, und ich hatte ihn nicht gesehen.
    »Tut mir leid!«, keuchte ich verlegen.
    »Macht doch nichts.« Er trat einen Schritt zurück und sah dann zu mir herunter. Irgendetwas stimmte hier nicht. Es war, als hätte der christliche Athlet auf mich gewartet . »Ich habe gerade nach dir gesucht.«
    Aha, er hatte intuitiv gespürt, dass ich eine plötzliche Glaubenskrise hatte und mich die sogenannte dunkle Nacht der Seele überkam! Jetzt würde er mich für mein Fehlverhalten zur Rechenschaft ziehen! Ich sah zu ihm auf und sagte: »Hm.« Er kam eine Spur näher. »Ich habe nachgedacht. Würdest du dich freuen, wenn du abends mal Besuch bekommst? Besuch von deinem Onkel Rodge?«
    Ich starrte ihn an, während ich die Bedeutung seiner Worte verarbeitete. Es dauerte einen Moment, bis der Groschen fiel, doch dann drehte ich mich um und rannte zurück ins Foyer. Aaron suchte nach mir. »Wo warst du denn?«, beschwerte er sich. »Wyatts Mutter wartet schon seit zehn Minuten.«
    Ich folgte meinem Bruder zu Mrs. Reeds Wagen, wo ich auf der Rückbank in die Ecke rutschte und steif von Wyatt Abstand hielt. Irritiert, doch höflich versank er in Schweigen. »Hattet ihr Spaß?«,

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