FJORD: Thriller (German Edition)
Hände vors Gesicht. Ann Christin konnte sie kaum verstehen. »Sie sagen … sie sagen … Erik … hätte was mit ihr gehabt!«
»Was?!« Ann Christin sprang auf. »Das ist doch wohl das Hinterletzte! Erik würde nie …« Sie lief ein paar Schritte durch den Raum und hielt dann inne. »Erik hat überhaupt keinen Kontakt mit Liv gehabt! Dafür würde ich meine Hand ins Feuer legen!«
»Mama?«, fragte Jan plötzlich leise aus der Ecke.
Ann Christin fuhr herum und versuchte, sich zu beherrschen.
»Mama, Liv ist tot, oder?«
Ann Christin wollte ihm nichts vormachen. »Ja, Jan. Liv ist tot«, erwiderte sie kaum hörbar.
»Und Papa ist weg, oder?«
Ann Christin antwortete deutlich lauter als gewollt: »Nein, dein Vater ist nicht weg! Er sucht Aurora! Das hab ich dir doch schon ein paar Mal erklärt! Bald wird er wieder hier sein, ganz bestimmt!«
Jans Miene verzog sich schmollend. Dann fand er eine Schachtel Lego-Bausteine, riss sie auf und tauchte in seine eigene Welt ein.
39
Ole Nielson hielt Odin fest am hinteren Kragen gepackt und riss mit der anderen Hand die Tür zur Wachstube auf, ohne die Tasche mit den gestohlenen Waren abzustellen. Doch statt Hetland oder zumindest Morgan anzutreffen, war der Raum leer. Odin atmete erleichtert auf. Nielson zögerte einen Moment. Vielleicht hätte sich Odin losreißen können, aber wohin hätte er gehen sollen? Zurück ins Versteck? Unbeobachtet würde er nun sicher nicht mehr dorthin gelangen, dafür hatte er bereits zu viel Aufmerksamkeit erregt.
»Das ist ärgerlich«, meinte der Ladenbesitzer und überlegte kurz. »Nun gut, es ist zwar ein denkbar schlechter Zeitpunkt, aber wenn kein Polizist vor Ort ist, müssen wir eben zum Bürgermeister.«
»Gute Idee«, erwiderte Odin ironisch, »seine Tochter ist ja nun tot.«
»Den Hundesohn finden sie noch, verlass dich drauf!« Nielson zog Odin mit sich aus der Wache und unter den verwunderten Blicken einiger Anwohner weiter zum Hotel.
Die zum Hotel gehörende Bar war beinahe leer. Nur ein paar Handwerker, die nicht aus Kongesanger stammten, genossen ihren frühen Feierabend. Bürgermeister Paulsen saß auf der anderen Seite, an einem versteckten Ecktisch, hatte einen Schnaps vor sich stehen und starrte mit gebrochenen Augen vor sich hin. Seine wenigen Bewegungen bestanden einzig darin, den Schnaps hinunterzukippen, zur Flasche zu greifen und sich nachzuschenken.
Seit einigen Stunden saß er schon hier und versuchte zu begreifen, was geschehen war. Seine Tochter. Sein Kind. Seine geliebte Liv … sie war tot. Sie würde nicht wiederkommen und mit ihrer heiteren Art die Gäste unterhalten. Jeder mochte sie. Das wusste Magnus Paulsen genau. Das Gerede der Leute ignorierte er. Niemals war seine Tochter ein Flittchen gewesen! Das war der blanke Neid auf ihre Schönheit sowie den Reichtum und das Ansehen, das er für seine Familie im Laufe der Jahre erworben hatte. Neider gab es immer. Aber dass sein Sohn ebenso schlecht von seiner Schwester dachte wie die anderen im Dorf, schmerzte Magnus sehr. Auch die Vorwürfe, er hätte sich nicht genug um seine Kinder, insbesondere seine Tochter, gekümmert, jagten noch durch seine Gedanken.
Plötzlich gab es einen Tumult an der Tür. Magnus wollte eigentlich bei seinen trüben Gedanken bleiben, doch dieser Lärm ließ sich nicht ignorieren. Er blickte zur Tür. Der Lebensmittelhändler hielt Odin Dahl am Kragen gepackt und sah sich suchend um. Als er Magnus fand, nickte er und eilte auf ihn zu, ohne Dahl loszulassen.
»Tut mir leid, dich stören zu müssen, Magnus«, erklärte Nielson, »aber ich habe den Kerl hier beim Ladendiebstahl erwischt. In der Wache war niemand, schätze, die suchen noch nach den Vermissten.«
»Hat das nicht Zeit?«, fragte Magnus unwillig.
»Sicher«, stimmte Nielson zu. »Sobald du mir die heutige Anzeige bestätigt hast.«
Paulsen schüttelte resignierend den Kopf. Nielson war ein feiner Kerl, aber sehr penibel, wenn es um seinen Besitz ging. Er hatte noch nie einen Diebstahl durchgehen lassen. Selbst Kleinkinder, die es im Beisein ihrer Mütter in einem unbeaufsichtigten Moment schafften, sich eine Traube oder Bonbon oder sonst was in den Mund zu schieben, brachte er zur Anzeige. Doch was sollte die Polizei gegen strafunmündige Kinder und Bagatelldelikte unternehmen? Inzwischen achteten die meisten Mütter mit Argusaugen auf ihren Nachwuchs, wenn sie in seinem Laden waren.
»Also gut, mach es kurz.« Magnus ging
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