Flagge im Sturm
ihre Schönheit unterschätzt, so wie er auch ihren Mut unterschätzt hatte. Gestern war er nach Nantasket geritten als der gütig wohlwollende Schwager, der bereit war, einer einsamen Witwe die Bürde des Alleinseins von den Schultern zu nehmen. Stattdessen hatte sie ihn von ihrem Anwesen gejagt.
Ihr Anwesen! In seinem Testament hatte Eben tatsächlich die ganze Farm allein seiner Ehegattin vermacht, und nicht Roger, seinem einzigen Bruder. Nur in Rhode Island war ein solches Testament gültig. Drei Advokaten hatten ihm, Roger, dringend davon abgeraten, dagegen Einspruch zu erheben. Er konnte sich Ebens spöttisches Lachen gut vorstellen. Roger hörte die leichten Schritte seiner Gattin vor der
Tür. Sie hielt einen Moment inne und setzte dann den Weg zu ihrem Zimmer fort. Er hatte auch nicht erwartet, dass sie zu ihm kommen würde, und er war nicht besonders daran interessiert. Ihr ewiges Schwatzen und Tratschen regte ihn beinahe genauso auf wie ihre Anhänglichkeit ihrem Vater gegenüber. Den alten Mann besuchte sie jeden Morgen mit einer Hingabe, die sie Roger nie erwiesen hatte.
Wäre sie nur nicht so ungeschickt gewesen, mehr Geld von dem alten Geizhals zu verlangen! Es hatte ja auch nur ein Kredit sein sollen, der Roger über die Verluste hinweghelfen würde, die ihm aus einer Fehlinvestition in Jamaika entstanden waren.
Der Alte hatte sich jedoch nicht einmal anhören wollen, worum es sich handelte.
Heute indessen war Evelyn wirklich hilfreich gewesen, obwohl jetzt ganz offensichtlich das schlechte Gewissen sie plagte.
Roger lächelte vor sich hin. Sein hohlköpfiges Weibchen hatte Demaris zweifellos alles weitergetragen, was er ihr unter dem Siegel der Verschwiegenheit „anvertraut“ hatte, und das wahrscheinlich noch mit ihren eigenen Ausschmückungen versehen.
Heute Abend würde Demaris hinter jedem Busch einen Mörder sehen, und bald würde sie nach Newport gelaufen kommen, um für immer hierzubleiben.
Die Geschichte, dass er wie ein edler Ritter nach Verbrechern jagte, stimmte selbstverständlich nicht. Im Gegenteil, ihm lag viel zu sehr an den großzügigen Zahlungen der Kapitäne, die als Gegenleistung von ihm nur erwarteten, dass er die undeklarierten Ladungen übersah.
Roger hatte indessen noch größere Pläne. Seine Zukunft sollte weder von schmierigen Kapitänen noch von einem geizigen Schwiegervater abhängen. Und dazu brauchte er jetzt Nantasket und den hübschen kleinen Naturhafen, der sich direkt davor befand. Was er dazu keinesfalls brauchte, waren die neugierigen Augen seiner Schwägerin.
Roger lachte leise. Nächstes Jahr zu dieser Zeit würde er eine vornehme Kutsche besitzen, natürlich in London gebaut. Und möglicherweise reiste er selbst einmal dorthin, um die Arbeiten zu überwachen. Und für den Salon sollte es die allerfeinsten Tapeten im chinesischen Stil geben statt der altmodischen, provinziellen, mit denen er sich jetzt zufriedengeben musste. Und dann einen Spiegel mit Goldrahmen über dem Kamin ... Das alles wollte er haben und dazu noch die Möglichkeit, Ebens Witwe Nantasket fortzunehmen. Die Zukunft konnte nicht rosiger aussehen.
Als der Pferdewagen das Haus der Turners erreicht hatte, war die Sonne bereits untergegangen, und der Mond stand als strahlende Sichel über dem Horizont.
Es war schon zu spät, um das Fuhrwerk noch zu entladen, und da das meiste seiner Fracht für Caleb bestimmt war, ließ Demaris Pferd und Wagen bei ihm stehen, um den Rest des Heimwegs zu Fuß zurückzulegen.
Als sie über den letzten Hügel stieg, sah sie, dass ihr Haus völlig unbeleuchtet war. In keinem der Fenster brannte eine Kerze oder eine Laterne zur Begrüßung. Unwillkürlich beschleunigte Demaris den Schritt. Heute Morgen hatte sie Feuerstein, Kienspäne sowie Essen und Trinken und auch Kerzen in Jonathans Reichweite zurückgelassen.
Obwohl er sehr still gewesen war, schien es ihm doch viel besser zu gehen, und deshalb hatte sie es auch nicht für nötig gehalten, Ruth wieder kommen zu lassen. Wenn er nun zu früh aufgestanden und sein Fieber zurückgekehrt war?
Mit einem Mal erinnerte sie sich daran, was Evelyn ihr erzählt hatte. Sie dachte auch wieder an van Veres Warnungen vor Piraten. Was, wenn die Diebe übers Wasser gekommen waren und das Haus ausgeraubt hatten, während sie in Newport gewesen war? Die Verbrecher konnten nicht vermutet haben, hier jemanden vorzufinden. Was mochten sie Jonathan angetan haben? Selbst Demaris wusste, dass Piraten dafür bekannt
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