Flagge im Sturm
Krug für Tom zu bringen. Obwohl er äußerlich seine Übellaunigkeit beibehielt, klopfte ihm das Herz bis zum Hals, und sein Mund war trocken. Wenn er wollte, konnte er jetzt die Antwort auf alle Fragen erhalten, die ihn in den vergangenen Wochen geplagt hatten, doch merkwürdigerweise war er sich jetzt nicht mehr so sicher, dass er alles wissen wollte.
„Wie viele von der Mannschaft sind übrig geblieben?“, fragte er vorsichtig.
Tom nahm einen großen Schluck Rum, wischte sich dann mit den Handrücken den Mund ab und dachte nach. „Also, da bin ich, dank Will und der alte Henry und Jeremy und die Wilton-Brüder. Insgesamt sieben mit Euch, und das ist ein wahres Wunder. Wisst Ihr noch, wie schlecht der Kampf für uns stand, Käpt’n Sparhawk?“
„Ich erinnere mich, Tom.“ Und das war die reine Wahrheit.
Dies war das Einzige, was er nicht vergessen hatte.
Tom schaute auf seinen auf der Tischplatte liegenden Hut hinunter und strich langsam über die Feder. „Ihr habt an diesem Tag ein Dutzend guter Männer und auch beide Jungen verloren, sie mögen in Frieden ruhen. Georgie war nämlich der Liebste meiner Schwester, wisst Ihr, und ich wage mich nicht nach Haus, weil ich Angst davor habe, ihr ins Gesicht zu sagen, dass er nicht mehr lebt.“
Jonathan wusste nicht, wer dieser Georgie und der andere Junge waren, für ihn hatten auch die zwölf toten Mannschaftsmitglieder keine Gesichter, doch der Kummer war Tom allzu deutlich anzusehen.
Vierzehn Tote gehen also auf mein Gewissen, dachte Jonathan düster, und das waren nur meine eigenen Leute. Wie viele andere hatte er selbst umgebracht? Alle seine Befürchtungen trafen zu, und alles war noch viel schlimmer als erwartet.
Falls Demaris das erfuhr, würde sie ihm niemals vergeben. Sie würde es jedoch nicht erfahren, jedenfalls nicht von ihm. Nachdem er die Wahrheit von Tom gehört hatte, wusste er, was er zu tun hatte.
Heute Nacht würde er verschwinden. Unter einem anderen Namen wollte er auf dem nächsten Schiff anheuern, das ihn annahm, und Demaris konnte ihr Leben ohne ihn weiterführen. Er dachte daran, wie kalt sie ihn heute auf dem Friedhof angesehen hatte. Vielleicht war sein Verschwinden für sie gar nicht einmal unwillkommen.
„Weißt du, was aus der Schaluppe geworden ist, Tom?“, fragte er, um sich mit einem einfacheren Thema zu beschäftigen. „Ist sie untergegangen oder an den Klippen zerschellt?“ „Keins von beidem, Käpt’n Sparhawk“, antwortete Tom, stolz darauf, einmal mehr zu wissen als sein Kapitän. „Sie hat zwar achtern einen Felsen gerammt, doch das hat ihr nicht viel ausgemacht. Natürlich hat sie ihren Fockmast verloren und mit ihm fast alles Segeltuch und Tauwerk, doch es ist nichts, was man nicht wieder reparieren könnte. Das meiste ist schon wieder in Ordnung.“
Jonathan neigte sich aufgeregt über den Tisch. „Wo ist sie Tom? Wer hat sie jetzt?“
Tom sank traurig zurück. „Ach, fragt lieber nicht. Diese
Schurken, die uns gekapert haben, behaupteten, ihnen läge ein Freibrief der Krone vor oder so etwas, und nun ist Eure arme ,Leopard an irgendeinen Fettwanst von der Admiralität vergeben worden.“ Er schüttelte finster den Kopf. „Eure Papiere haben die miserablen Bastards verschwinden lassen, und Eure Waren gleich mit. Uns haben sie vor die Wahl gestellt, entweder bei einem Freibeuter anzuheuern und für einen feinen Newporter Gentleman Jagd auf Spanier zu machen oder uns als Piraten hängen zu lassen.“
Einem Piratenkapitän hätte man diese Wahl nicht gelassen, dachte Jonathan bitter. Wäre er zusammen mit den anderen gefangen worden, würde er längst am Galgen verrottet sein. Die Admiralität machte immer kurzen Prozess mit Piraten.
Wieder dachte er an Demaris, deren Schwager ja Richter war. Wahrscheinlich hatte sie ihm nichts von dem Schiffbrüchigen erzählt, der an ihrem Strand angespült worden war. Ohne es zu wissen, hatte sie ihm damit zum wiederholten Mal das Leben gerettet. Oder die Behörden waren fest davon überzeugt, dass Kapitän Jonathan Sparhawk bereits tot war, sodass sie die Sache nicht weiter untersuchten.
Zumindest war das der Stand gewesen, bevor er sich heute stolz wie ein Lord auf dem Friedhof hatte angaffen lassen. Das war ein weiterer Grund, Newport zu verlassen, und zwar noch heute Abend.
Tom blickte ihn sehnsüchtig an. „Ihr könnt Euch die Leopard“ zurückholen, Käpt’n Sparhawk. Ihr könnt Euch darauf verlassen, dass Eure Männer wieder für Euch kämpfen
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