Flamingos im Schnee
behalten konnte. Sie würden sie mitten in der Nacht aus ihrem Zimmer holen müssen.
Asher nannte es die »Operation Görenraub«.
Es stand viel auf dem Spiel. Alicia hatte einen leichten Schlaf und war ohnehin schon auf der Hut. Und wenn Alicia auf der Hut war, glich sie einem Pfadfinder, der das Lager bewachte. Eine der größten Enttäuschungen ihres Mutterdaseins war es, dass Cam abends nie zu spät nach Hause kam. Sie hatte sich generalstabsmäßig auf diesen Fall vorbereitet. In der Nacht, als Cam zum ersten Mal allein mit dem Auto losfuhr, schwärzte sie sich das Gesicht, steckte sich Laub ins Haar und hockte sich ins Gebüsch, bereit, über Cam herzufallen, sobald sie auch nur eine Minute nach Mitternacht nach Hause kam.
Doch Cam war immer pünktlich, sagte nur: »Hi, Mom«, wenn sie das Knallen eines Kaugummis aus dem Gebüsch hörte, und ging ins Haus.
»Pass auf Fallstricke auf«, warnte Cam Asher, als sie auf Zehenspitzen durch den Flur auf Perrys Zimmer zugingen.
»Ist das wirklich alles nötig?«, fragte er. Sie hatte ihn dazu gebracht, sich schwarz anzuziehen und eine Stirnlampe um den Kopf zu schnallen. Außerdem trug er ein aufgerolltes Seil über der Schulter und eine Rolle Klebeband in der Hand. Er sah zum Schreien aus.
»Positiv«, kicherte Cam.
Die zweite große Herausforderung bestand darin, Perry dazu zu bringen, den Mund zu halten. Ihre Zielperson war ein kreischendes, schreiendes, gackerndes Monster. Eventuell würde es nötig sein, sie zu fesseln und zu knebeln. Nur vorübergehend, bis sie sie im Anhänger hatten.
Nana schnarchte wie eine Bulldogge, als sie die Tür einen Spalt breit öffneten. Auf Strümpfen schlichen sie hinein. Cam zeigte fuchtelnd auf den Koffer auf dem Boden und dann auf die Kommode, um Asher zu bedeuten, dass er ein paar Sachen für Perry zusammenpacken sollte. Asher zeigte auf sich selbst und zuckte die Achseln, wie um zu sagen: »Ich?« Cam nickte, »Ja, du«, und machte sich an die Arbeit.
Sie rollte Perry auf dem niedrigen Ausziehbett herum, packte sie an den Händen und zog sie hoch.
»Was ’n los?«, stöhnte Perry, deren Kopf zur Seite kippte.
»Wir machen einen Ausflug«, flüsterte Cam.
Nana wälzte sich mit einem knurrenden Schnarchen herum.
»Wohin?«, fragte Perry, die Augen immer noch geschlossen.
»Orlando«, sagte Cam. »Nur für ein paar Tage.«
»Ju- «, wollte Perry losjubeln, aber Cam hielt ihr schnell den Mund zu. Ihre Schwester brabbelte unter ihrer Hand weiter, derweil sie Asher herbeiwinkte und ihm klarmachte, dass er sie hinaustragen sollte. Asher schwang Perry auf seine Schulter, Cam schnappte sich den Koffer, und gemeinsam schlichen sie zur Haustür. Perry quietschte leise vor Aufregung und trommelte mit den Fäusten auf Ashers Rücken ein.
Draußen warfen sie Perry zu Sunny, Royal, Grey und Autumn in den Anhänger. Keiner von ihnen hatte ein Auto, das groß genug für alle gewesen wäre, also hatten sie beschlossen, den Vagina-Zug zu nehmen. »Danke, dass ich mitkommen darf, Leute!«, schrie Perry nun laut.
»Hier.« Cam warf den Koffer hinterher.
»Was ist das?«, fragte Perry.
»Deine Klamotten«, antwortete Cam ungeduldig. Sie zog die Rolltür des Anhängers herunter und schloss ihn ab.
»Warte!«, wimmerte Perry und hämmerte an die Seitenwand des Anhängers.
»Das war nicht der, den ich gepackt habe«, sagte Asher.
»Nein?«
»Nö.«
Cam schob die Anhängertür wieder hoch und starrte auf Perry, die eine von Nanas riesigen, seidig glänzenden Unterhosen in die Höhe hielt.
»Hoppla«, sagte Cam. »Tja, dann musst du halt improvisieren.« Damit schloss sie die Tür endgültig und überhörte Perrys anhaltendes Hämmern an die Seitenwand.
»Dabei hatte ich so süße Sachen für sie eingepackt«, meinte Asher bedauernd.
Grey und Royal mussten Asher praktisch ins Flugzeug tragen. Er schaffte es bis zum Gate C4 am Flughafen Portland, dann nahm sein Gesicht die graugrüne Farbe ausgewaschener Camouflagehosen an. Cam bekam beinahe Angst vor ihrer eigenen Courage, aber sie wusste, wenn er das durchstand, konnte er alles schaffen. Ähnlich wie bei der Operation »Görenraub« hieß es nun: Augen zu und durch.
Die beiden Jungen nahmen Asher in ihre Mitte, hielten ihn an den Armen fest und halfen ihm über die Fluggastbrücke ins Flugzeug.
»Ist er betrunken?«, fragte die Flugbegleiterin, als sie in ihre frühmorgendliche Maschine stiegen.
»Noch nicht«, sagte Grey. Er war der unberechenbare Faktor in der Gruppe und
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