Flamme der Freiheit
Erinnerungen an die sorgenfreie Sommeridylle auf Schloss Paretz in die Gegenwart zurückkehren zu müssen. Nein, diese eine Woche im September des Jahres 1803 würde sie niemals vergessen. Ob die kleine Charlotte noch ab und zu an sie dachte oder »Demoiselle Prohaska« schon längst vergessen hatte?
Die kleine Prinzessin war tatsächlich am nächsten Vormittag vor dem Gärtnerhaus aufgetaucht und hatte nach Eleonora verlangt, um mit ihr spazieren zu gehen. Was als Bitte geäußert war, stellte sich für Eleonora dennoch fast als Befehl dar. Aber als sie mit Charlotte über das liebevoll gestaltete Parkgelände schlenderte, verlor sich ihre Befangenheit sehr schnell. In einem Pavillon machten die beiden Rast. Ein dienstbarer Geist hatte dort schon einen Korb mit frischem Obst und einer Karaffe Limonade bereitgestellt. Und dann kam Eleonora nicht drum herum, sich »Der Kuckuck und der Esel« vorsingen zu lassen und dieses Lied selbst zu lernen. Als sie mit Charlotte um die Wette »kuckuck« sang und »iahte«, hatte sie vollkommen vergessen, dass das kleine blonde Mädchen an ihrer Seite eine preußische Prinzessin war.
Von unüberwindbaren gesellschaftlichen Schranken zwischen den beiden begeisterten Sängerinnen konnte in diesem Moment keine Rede sein.
So war es eben auf Schloss Paretz, auf dem Königin und König zu gerne für ein paar Tage ihre repräsentativen Pflichten vergaßen und einfach nur ein junges, sich liebendes Ehepaar waren, das sich am Anblick seiner gedeihenden Kinderschar erfreute. Es war ein stilles, kleines Glück, das ihnen leider stets nur für wenige Wochen im Spätsommer vergönnt war. Nicht ohne Grund hatten die Dorfbewohner der königlichen Sommerresidenz den Namen »Schloss still im Land« verliehen.
Im vergangenen Sommer war man länger als sonst draußen geblieben, um am 15 . Oktober noch den zehnten Geburtstag des Kronprinzen zu feiern. So hatte es die Gräfin von Voss ihrer Freundin brieflich mitgeteilt und sich entschuldigt, einer Einladung von Gräfin von Prewitz daher leider nicht Folge leisten zu können. Eleonora lächelte bei der Erinnerung, wie der damals achtjährige Kronprinz Wilhelm ihr einen formvollendeten Handkuss gegeben hatte. Das Erntefest sei in diesem Jahr besonders ausgelassen gefeiert worden, hatte Gräfin von Voss noch geschrieben. Es war Tradition geworden, dass sich Königin und König unter die tanzende Dorfbevölkerung mischten. Die leidenschaftliche Tanzfreude von Luise war legendär, aber hier schien sogar Friedrich Wilhelm Spaß daran zu haben, seine grazile Gemahlin im Kreis zu schwenken. Und nicht nur er. Die Stimmung war so ansteckend gewesen, dass General von Köckritz kurzerhand die widerstrebende Gräfin Sophie Marie von Voss auf die Tanzfläche gezogen hatte, um mit ihr vergnügt loszuwalzen. »So kam ich nicht umhin, bei diesem bal champêtre mitzuwirken«, schrieb die Oberhofmeisterin ihrer alten Freundin und schien weniger pikiert als angetan.
Ob es diese fröhliche Ausgelassenheit in Paretz jemals wieder geben würde? Was hatte Gräfin Dorothea vorhin mit ihrer unheilvollen Ankündigung nur gemeint?
Nachdenklich schaute Eleonora auf ihre Hände, die auf der Tastatur des Flügels ruhten. War ihr beschauliches Dasein, an das sie sich mittlerweile gewöhnt hatte, tatsächlich bedroht? Sollte ihr Auftritt auf Schloss Paretz bereits den letzten Höhepunkt ihrer hoffnungsvollen, aber noch gar nicht richtig begonnenen Künstlerlaufbahn bedeuten? Eine unerklärliche Angst stieg in Eleonora auf. Sie fühlte sich und ihre Existenz in nicht erklärbarer Weise bedroht. Sie schaute um sich. Alles war wie immer, die dichten Vorhänge des Musiksalons zugezogen, auf dem Flügel stand der sechsarmige Kerzenleuchter, im Kachelofen prasselte das wärmende Feuer. Dennoch war es Eleonora plötzlich kalt. Es war eine innere Kälte, die sie zittern und erbeben ließ. Gleich würde sie sogar noch anfangen, mit den Zähnen zu klappern. Aber dann, ganz allmählich, jedoch unaufhaltsam begann ein anderes Gefühl sich ihrer zu bemächtigen, ein bislang unbekanntes Gefühl. So etwas hatte sie noch niemals zuvor verspürt. Eleonora nahm die Hände von den Tasten und legte sie in den Schoß. Mit geneigtem Kopf lauschte sie in sich hinein. Minutenlang verharrte sie in dieser Stellung. Erst nach geraumer Zeit war sie in der Lage, auch richtig zu erfassen, was in der Tiefe ihres Wesens zu keimen begann. Sie hob den Kopf und atmete tief durch. Sie hatte erkannt: Es war Wut,
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