Flammen über Arcadion
Wahrheit gesagt. Sie ließ Carya auf die Waage steigen, maß ihre Körpergröße, schaute sich Augen, Ohren und Zähne an und nahm ihr Blut ab. Zu Beginn der Untersuchung verstand Carya überhaupt nicht, wofür das alles gut sein sollte. Was kümmerte die Inquisition die Gesundheit ihrer Gefangenen? Erst als die Ärztin ihr befahl, sich auf die Pritsche zu legen, und ihren Bauchnabel in Augenschein nahm, begriff sie. Die wollen wissen, ob ich eine Künstliche bin!
Der Gedanke war natürlich absurd, aber diese Art von Paranoia passte zur Inquisition. Carya hatte mit Invitros paktiert, und laut den Akten, die den Inquisitoren sicherlich zur Einsicht vorlagen, war sie ein Findelkind, das angeblich aus dem Ödland stammte. Aber wer konnte das schon mit Sicherheit sagen? Eingehende ärztliche Untersuchungen gab es von ihr auch nicht, denn Carya war nie schwer krank gewesen. Was konnte sie anderes sein als eine Invitro?
Schließlich hatte sie die Prozedur hinter sich, und Spietato befahl ihr, sich wieder anzuziehen. Den Anhänger gab sie ihr nicht zurück. Die Wächter führten Carya zurück in die Zelle, wo sie zu ihrer Freude ein Tablett mit einem Krug Wasser und etwas zu essen vorfand. Das Mahl war karg und bestand im Wesentlichen aus einigen Scheiben Brot und Ziegenkäse, aber Caryas Magen knurrte mittlerweile so vernehmlich, dass sie für jeden Bissen dankbar war.
Sie hatte kaum den Blechnapf geleert, als die Tür bereits wieder geöffnet wurde und ihre Wächter sie herauswinkten. Es handelte sich erneut um die beiden Männer, die sie schon kannte.Anscheinend waren sie für diesen dunklen Teil des Tribunalpalasts zuständig. »Mitkommen«, knurrte der eine, bevor er ihr, wie schon beim ersten Mal, Handschellen anlegte.
Carya fragte sich, ob das eine grundsätzliche Vorsichtsmaßnahme war oder ob irgendeiner der Templersoldaten ihren plötzlichen Ausbruch von Kampfeswut in der Gasse im Dorf der Mutanten beobachtet hatte. Nein , gab sie sich im nächsten Augenblick selbst die Antwort. Wenn das wirklich jemand mitbekommen hätte, würde hier jetzt ein Schwarzer Templer stehen, um mich zu eskortieren, nicht zwei einfache Uniformierte. Der Gedanke daran, dass bewaffnete Männer Grund hatten, sie zu fürchten, versetzte sie in eigenartige Erregung. Sie wünschte sich, sie könnte dieses Ass im Ärmel ausspielen, wann immer sie es benötigte – und nicht nur, wenn die Karte selbst entschied, dass sich das Blatt für Carya wenden müsse.
Diesmal wurde sie in einen anderen Trakt des Tribunalpalasts geführt. Hier herrschte etwas mehr Betrieb. Streng gekleidete Männer und Frauen marschierten mit Aktenordnern durch die Gänge. Und vor mancher Bürotür saß eine in sich zusammengesunkene Gestalt, flankiert von einem uniformierten Wachmann, und wartete darauf, einem der Inquisitoren vorgeführt zu werden, die – den Messingschildern an den Türen zufolge – in den Räumen ihre Büros hatten.
Bevor Carya das Schild lesen konnte, das an der Tür hing, hinter der ihr eigenes Ziel zu liegen schien, wurde diese abrupt geöffnet, und ein junger Mann trat daraus hervor.
Carya riss die Augen auf. »Ramin!«, rief sie überrascht aus.
Der gutaussehende Jungtempler bedachte sie mit einem kalten Blick. In seinen strahlend blauen Augen lag eine Verachtung, die Carya gegen ihren Willen einen Stich in der Brust versetzte. »Carya«, erwiderte er.
»Was machst du hier?«, fragte sie.
»Mir wurde eine neuer Ehrendienst zugetragen: als Adjutant von Inquisitor Loraldi.« Um seine Mundwinkel deutete sich ein humorloses Lächeln an. »Wäre ich über die Taten des Hochverräters Estarto nicht so entsetzt, wäre ich ihm beinahe dankbar dafür, dass er den Platz für mich freigemacht hat. Weißt du, was für eine Ehre es für einen Jungtempler ist, einem Inquisitor dienen zu können? Nein, wie könntest du. Was weißt du schon von Ehre, Verräterin?« Er beugte sich zu ihr herunter und senkte die Stimme zu einem erbosten Zischen. »Du bist die größte Enttäuschung, die mir jemals in einer Templergruppe untergekommen ist.«
Carya spürte, wie Zorn in ihr erwachte. Sie war wütend auf sich selbst, weil sie diesen Kerl einst angehimmelt hatte. Und sie war wütend auf Ramin, der so selbstgerecht auftrat, ohne auch nur die geringste Ahnung zu haben, was wirklich in den Reihen der Inquisition vor sich ging. Oder vielleicht wusste er es auch und billigte es. Dann war es umso schlimmer. »Ich bin froh, dass du das sagst«, entgegnete sie
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