Flammenbraut
Nachmittagssonne und beschien einen kleinen Tisch und drei Stühle. »Das ist unsere Referenz-Sammlung«, erklärte Corliss. »Hier sollten wir die Antwort auf Ihre Fragen finden. Was möchten Sie genau wissen?«
»Daran arbeite ich noch. Dieser Fall weist – vielmehr wies – so viele Einzelheiten auf, dass sie sich unmöglich in ein Szenario einbauen lassen. Der Mörder hat vieles getan, das keinen Sinn ergibt.«
»Zum Beispiel?«
»Zum Beispiel warum hat er manche Leichen zerstückelt und andere nur enthauptet? Warum hat er manche in den Fluss geworfen und manche an Orten abgelegt, wo sie gefunden werden mussten? Warum hat er sowohl Männer als auch Frauen getötet?«
»Ist das denn ungewöhnlich?«
»Relativ auffallend, ja. Auch wenn der Night Stalker in Kalifornien ähnlich vorging, er sich auch Opfer verschiedenen Alters, Geschlechtes und gesellschaftlicher Stellung gesucht hat.« Theresa blieb vor einer großen, gerahmten Karte stehen, auf der Linien den Schienenverkehr im Nordosten der Vereinigten Staaten repräsentierten. »Das ist allerdings meine drängendste Frage. New Castle, Pennsylvania.«
Corliss stellte sich neben sie. »Was soll damit sein?«
»Vor, während und nach den Torso-Morden in Cleveland fand man auch Leichen in einem Sumpf in New Castle, Pennsylvania. Zwischen 1923 und 1941 wurden dort mindestens elf Menschen umgebracht.«
Ihr Begleiter schwieg, woraufhin ihm Theresa einen Blick zuwarf. Manchmal vergaß sie, dass es nicht jedem so leichtfiel wie ihr, über gewaltsame Tode zu sprechen. Doch er schien überrascht, nicht erschüttert, und fragte schließlich: »Dürfen Sie mir so etwas überhaupt erzählen?«
Theresa lachte. »Es handelt sich um einen fünfundsiebzig Jahre alten Fall, über den unglaublich viel gesprochen wurde. Ich verrate Ihnen sicher nichts – verdammt, ich weiß sicher auch nichts –, was man nicht in einem Buch nachlesen könnte, das überall erhältlich ist. Es handelt sich ja noch nicht einmal um eine echte offene Ermittlung – eher um eine intellektuelle Übung.«
Er nickte zögernd, und sie fuhr fort: »Ich habe diese Woche ein wenig im Internet recherchiert und herausgefunden, dass New Castle ein wichtiger Eisenbahnknotenpunkt war – und immer noch ist. Viele Leichen hat man in der Nähe von Schienen gefunden, drei der Toten in New Castle sogar in einem leer stehenden Güterwaggon. Einen weiteren bei den Gleisen.«
»Und Sie glauben, dass der Torso-Mörder seine Opfer aus den Zügen ausgewählt hat?«
»Ich glaube, der Mörder kam selbst mit den Zügen.«
25
Donnerstag, 9. September
Corliss drehte sich zu ihr, als hätte sie eine Blasphemie geäußert. »Ein Eisenbahnangestellter?«
»Genauer gesagt, ein Angestellter, der sowohl in Cleveland als auch in New Castle, Pennsylvania gearbeitet hat. Gibt es eine Möglichkeit, eine Liste von Leuten zu bekommen, auf die das zutrifft?«
Sein Gesichtsausdruck wandelte sich von Bestürzung zu blankem Entsetzen. »Nach so vielen Jahren? Ich bezweifle, dass irgendeine Gesellschaft noch Akten aus der Zeit hat. Darüber hinaus gibt es bei der Bahn so viele verschiedene Arten von Beschäftigungen. Vor allem zur damaligen Zeit – sogar ungelernte Arbeiter hat man für einen oder zwei Tage angeheuert, in der Hauptsaison oder für einen Putzjob. Den Bahnhof kehren oder einen Zug beladen, solche Arbeiten wurden nach Belieben vergeben. Dann hat man noch Fachkräfte für die Elektrik oder Schweißarbeiten angeheuert, die aber nicht offiziell von der Eisenbahngesellschaft angestellt waren.«
»So was wie Vertragsarbeiter?«
»Genau. Auch wenn das nicht so oft vorkam. Es gab auch Männer, die von einer Gesellschaft entlassen und von einer anderen wieder eingestellt wurden, sodass manche ständig in einer Gegend beschäftigt waren, aber bei verschiedenen Unternehmen. Und außerdem gibt es die meisten der Eisenbahngesellschaften von damals heute gar nicht mehr … genauer gesagt, ist keine mehr übrig. Irgendwo hier haben wir eine Liste nicht mehr existierender amerikanischer Eisenbahngesellschaften, und das waren mindestens zweitausend. Um die Jahrhundertwende sind alle miteinander fusioniert, bis es nur noch CSX und Norfolk Southern und noch ein paar andere gab.«
Theresa seufzte. »Mit anderen Worten – unmöglich.«
»Mehr oder weniger, ja.« Es schien ihm leidzutun, sie enttäuscht zu haben.
»Versuchen wir es mal andersherum. Welcher Beschäftigung hätte ein Mann nachgehen können, die das Pendeln zwischen
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