Flammenbraut
Übung.«
Theresa versuchte vergeblich, ihre Finger loszumachen, und dachte: Genau deshalb wollte ich nie Polizistin werden. Wie sieht man einer Mutter in die Augen, die ihren Sohn für einen guten Jungen hält, und erklärt ihr, dass er eine Schulkameradin vergewaltigt hat? Oder macht einem Mann begreiflich, dass seine Frau aus freiem Willen das Bankkonto leer geräumt hat, um mit ihrem Geliebten abzuhauen? Wie einem kleinen Kind klarmachen, dass seine Eltern die Drogen mehr lieben als den eigenen Nachwuchs?
Vielleicht hatte Edward Corliss nur die Seite seines Vaters gesehen, die er sehen wollte oder durfte. Ted Bundy war auch ein Charmeur gewesen. »Ich würde nicht …«
Eine Stimme unterbrach sie. »Finden Sie alles, was Sie brauchen?«
Theresa zuckte zusammen. William Van Horn stand im Türrahmen und starrte auf ihre immer noch ineinander verschränkten Hände auf dem Tisch. Das Grinsen auf seinem hageren Gesicht war so unpassend wie abstoßend, und doch brachte es ihr Herz zum Klopfen, als hätte man sie in der Schule beim Kaugummikauen erwischt.
»Ja, danke«, erwiderte sie.
Edward Corliss zog seine Hand zurück.
Als Van Horn wieder verschwunden war, beugte sie sich über den Tisch und flüsterte: »Was ist eigentlich los mit dem Mann? Löst das jetzt einen Wahlskandal aus, dass man Sie mit einem Nichtmitglied zusammen erwischt hat?«
Corliss lachte schnaubend. »Und dann auch noch ausgerechnet in der Bibliothek. Nein, es gibt keinen bestimmten Grund, weshalb William sich so überheblich gibt. Das macht er immer. Damit gewinnt er zwar keine Freunde, aber er genießt seine eigene Gesellschaft so sehr, dass es ihm nichts ausmacht.«
Theresa kicherte. »Warum ist er dann Präsident?«
»Weil sein Großonkel der letzte Vorsitzende der Pennsylvania Railroad war und er sämtliche Stücke aus ihrer einhundertundvierundzwanzig Jahre währenden Herrschaft William vererbt hat. Er stellt der Gesellschaft immer ein paar Exponate gleichzeitig zur Verfügung, aber nur als Leihgabe. Der Druckmesser in der Lobby und die Fotografie des Congressional Express sind Beispiele dafür.«
»Oh.«
Er fuhr fort mit seinen Erklärungen: »Die Pennsylvania Railroad war ein Gigant und hat während ihrer Zeit achthundert kleinere Gesellschaften geschluckt.«
»Heute gibt es sie nicht mehr?«
»Die Linien wurden schließlich zwischen Conrail und Amtrak aufgeteilt. Zwanzig Jahre später wurden Conrails Linien dann wiederum zwischen CSX und Norfolk Southern aufgeteilt. Es ist eigentlich zum Heulen, wo Sie es so erwähnen.«
»Sie sagten, Ihr Vater habe für die Pennsylvania Railroad gearbeitet?«
»Ja, aber als einfacher Bremser, nicht als Geschäftsführer. Ich kann leider keinen Anspruch auf Williams Sammlung erheben, weshalb er sie weiterhin als Druckmittel für seine gesellschaftliche Anerkennung verwendet. Nun ja, jeder tut, was er tun muss.«
Theresa schüttelte den Kopf, und als ihr keine weiteren Fragen einfielen, dankte sie ihm für den überaus interessanten Nachmittag. »Danke, dass Sie mir gezeigt haben, wie man auf Züge aufspringt. Nicht dass ich es mir zur Gewohnheit machen will.«
»Keine Ursache. Und ich werde weiter bei mir zu Hause suchen, ob vielleicht doch Geschäftsunterlagen meines Vaters erhalten geblieben sind. Ich bezweifle zwar, dass ich etwas Interessantes finde, aber ich werde es Sie sofort wissen lassen.« Er tätschelte ihren Arm, als sie das Museum verließen, doch sie hatte den Eindruck, dass er die Bedeutung von allem, was er vielleicht fand, erst genau abwägen würde. Wenn etwas seinen Vater belasten könnte, würde sie nie davon erfahren.
Aber daran ließ sich nichts ändern, und sie konnte es ihm nicht einmal verübeln. Wer hätte schon gern, dass bekannt wurde, dass man von einem Serienmörder abstammte?
Theresa dankte Edward Corliss für seine Zeit und stieg in ihren Wagen. Als sie vom Parkplatz fuhr, entdeckte sie im Rückspiegel, wie er ihr nachblickte. Mit einem Mal sah man ihm sein Alter an, als er jetzt die Schultern sinken ließ und die Stirn furchte. Seine zuvor an den Tag gelegte Vitalität schwand, als ob sein Geist nun Gleisen folgte, die er eigentlich lieber nicht befahren wollte.
26
Sonntag, 26. Januar 1936
James hatte die beiden enthaupteten Männer auf dem Jackass Hill nicht vergessen, doch trug er nicht länger die blaue Jacke oder die Tabletten mit sich herum. Nachdem er und Walter alle Möglichkeiten der Identifikation ausgeschöpft hatten, hatten sie die
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