Flammenkinder: Kriminalroman (German Edition)
alleine auf dem Rasen umher und tritt in die roten Blätterhaufen. Ihre langen Haare hängen zerzaust auf den Rücken herab, und der schmale Körper scheint zu frieren. Elin nimmt ihre Strickjacke vom Stuhlrücken, geht hinaus und gibt sie Vicky.
»Danke«, flüstert das Mädchen.
»Ich werde dich nie wieder im Stich lassen«, sagt Elin.
Wortlos nimmt Vicky ihre Hand und drückt sie. Elins Herz pocht vor Glück, und sie kann vor Rührung nicht sprechen.
159
DER HIMMEL IST EIGENTÜMLICH DUNKEL , als Joona von der Europastraße 4 abfährt und die Landstraße 84 Richtung Delsbo nimmt. Er geht davon aus, dass Flora den Wagen genommen hat, um zur Kirche von Delsbo in Hälsingland zu fahren.
Er hat noch ihre erregte Stimme im Ohr, als sie ihm mitteilte, im Glockenturm halte sich eine Zeugin versteckt.
Joona wird einfach nicht schlau aus ihr. Es kommt ihm vor, als würde sie Lügen und Wahrheiten mischen, ohne sich dessen bewusst zu sein.
Trotz Floras vieler Lügen hat er die ganze Zeit nicht das Gefühl abschütteln können, dass sie mehr über die Morde im Haus Birgitta weiß als alle anderen.
Vielleicht ist diese Zeugin nur wieder eine ihrer Lügen, aber falls es wahr sein sollte, dann ist das von solchem Gewicht, dass er es nicht ignorieren darf.
Die tief hängenden Regenwolken färben die Äcker grau und die Nadelbäume fast blau. Er biegt in eine schmale, nicht asphaltierte Straße ein. Herbstblätter wirbeln über die Fahrbahn, und es ist schwierig, das hohe Tempo zu halten. Die Straße ist voller Schlaglöcher und kurvenreich.
Dann biegt er in eine Allee ein, die zur Kirche von Delsbo führt. Zwischen den Bäumen sieht er weitgestreckte Felder. In der Ferne bewegt sich ein einsamer Mähdrescher. Seine Klingen wischen wie eine Sense über den Erdboden. Es staubt von Spreu und Ähren. Vögel heben und senken sich in der staubigen Luft.
Als er die Kirche schon fast erreicht hat, sieht er ein Auto, das gegen einen Baum geprallt ist. Die Motorhaube ist eingedrückt, ein Kotflügel liegt im Gras, und ein Fenster ist zersplittert.
Der Motor läuft noch, die Fahrertür steht offen, und die Rücklichter beleuchten das Gras im Straßengraben.
Joona bremst, aber als er sieht, dass der Wagen leer ist, fährt er vorbei. Flora muss weitergerannt sein, denkt er und fährt bis zur Kirche.
Joona steigt aus dem Wagen und eilt den geharkten Kiesweg hinauf. Der geteerte Glockenturm steht auf einer Anhöhe unweit der Kirche.
Der Himmel ist dunkel, und es sieht aus, als könnten jeden Moment die ersten Tropfen fallen.
Unter der schwarzen Zwiebelkuppel hängt die riesige, stumpfe Glocke. Hinter dem Turm sieht man das schnell fließende, schwarz schäumende Wasser des Flusses.
Die Tür zu dem Gebäude steht einen Spaltbreit offen.
Joona geht das letzte Stück, und als er dem Glockenturm ganz nahe gekommen ist, steigt ihm ein intensiver Teergeruch in die Nase.
Der breite Sockel ist mit dunklen, schuppenartigen Holzschindeln verkleidet. Im Inneren führt eine steile Treppe zur Glocke hinauf.
»Flora?«, ruft Joona.
160
FLORA TRITT AUS DEM SCHATTEN und bleibt in der dunklen Türöffnung des Glockenturms stehen. Ihr Gesicht ist traurig, und die großen Augen sind müde und feucht.
»Hier ist niemand«, sagt sie und beißt sich auf die Lippe.
»Sind Sie sicher?«
Sie bricht in Tränen aus, und ihre Stimme bricht:
»Entschuldigung, aber ich habe wirklich gedacht … ich war mir so sicher …«
Sie steigt herunter und flüstert »Entschuldigung«, ohne ihn anzusehen, hält sich eine Hand vor den Mund und geht langsam zum Auto zurück.
»Wie haben Sie hierhergefunden?«, fragt Joona und folgt ihr. »Warum haben Sie geglaubt, dass die Zeugin hier ist?«
»Das Hochzeitsfoto meiner Pflegeltern … der Turm steht im Hintergrund.«
»Aber was hat das mit Miranda zu tun?«
»Der Geist hat gesagt, dass …«
Flora verstummt und bleibt stehen.
»Was ist?«, fragt Joona.
Er denkt wieder daran, dass Flora Miranda mit den Händen vor dem Gesicht und dem dunklen Blut um den Kopf gezeichnet hat. Aber sie zeichnete das Blut nicht wie eine Betrügerin, sondern wie jemand, der wirklich etwas gesehen hatte, sich aber nicht mehr an die genauen Umstände erinnern konnte.
Vor dem Antiquitätengeschäft sprach Flora von diesem Geistwie von einer Erinnerung. Sie versuchte, ihm zu sagen, was der Geist ihrer Erinnerung nach gesagt hatte.
Zwischen regenschweren Wolkenbänken dringen schmale Sonnenstrahlen hindurch.
Wie eine
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