Flammenpferd
ob sie das Mädchen überhaupt leiden mochte. Aber sie fortzuschicken, das wäre ungerecht gewesen. Sie machte die Arbeit so gut sie konnte, obwohl ihr die alltägliche Routine fehlte und Maren jeden zweiten Handgriff erklären musste. Die Pferde schien sie ehrlich zu mögen und ging freundlich und ruhig mit ihnen um. Fadista hatte es ihr besonders angetan. Sobald sie in seine Nähe kam, versank ihr Gesicht in einem Ausdruck tiefster Verzückung, und ihre Augen glänzten, als wäre ihr der Märchenprinz leibhaftig erschienen. Am Tag zuvor hatte Hella sie erwischt, wie sie den Hengst so bedrängte, dass er sich durch Steigen zu entziehen versuchte und das Mädchen in ernste Gefahr geriet.
Fadista prustete, als wollte er die Anspannung aus seinem Körper heraus schnauben, und senkte den Hals. Sie redete ihm gut zu und tastete sich um seine Kraft strotzende Hinterhand herum auf die linke Seite, was ihn deutlich verunsicherte, aber nicht flüchten ließ, obwohl sich ihre streichelnden Hände nun seinem Rumpf näherten. Swantje zeigte wenig Interesse in diesem „Getüddel“, wie sie es nannte, und wollte Fadista reiten, um ihrem Freund per Video zu beweisen, dass sein Geld gut angelegt war. Doch ohne Hellas Hilfe hätte sie nicht einmal den Sattel aufs Pferd bekommen, und so musste sie sich in Geduld üben. Wenn die Rede auf Jan kam, leuchteten Swantjes wasserblaue Augen nicht minder strahlend als Janas Katzenaugen beim Anblick von Fadista. So unterschiedlich die beiden jungen Frauen auch schienen, eine Gemeinsamkeit fiel auf: das offensichtliche Talent, sich in ein Gegenüber, ob Mensch oder Tier, mit Herz und Blut zu verlieben.
Hella verabschiedete sich von dem Hengst mit einem Stück hartem Brot, das er inzwischen gern annahm. Die Architekten hatten sich angemeldet, um die Baumaßnahmen im Kälberstall zu besprechen. Solange Hellas Eltern den Hof betrieben hatten, war in dem niedrigen Klinkerbau nicht nur das Jungvieh untergebracht gewesen, sondern auch die Milchküche, eine Werkstatt und die Futterkammer. Das Gebäude schien nur darauf zu warten, entkernt und aufgestockt zu werden und in neuem Glanz zu erstrahlen.
Es hatte Hella ausführliche Telefongespräche nach Australien gekostet, bis sie ihren Mentor und Teilhaber Werner Tischbein davon überzeugt hatte, dem ebenso noblen wie kostspieligen Architekturbüro, das er ursprünglich engagiert hatte, Adieu sagen zu dürfen. Deren überhebliches Allwissen war ihr mehr und mehr gegen den Strich gegangen. In der Provinz zählten schlichte Zweckmäßigkeit und handwerkliches Geschick höher als eine ausgefeilte Gestaltung und Designer-Schnickschnack. Das junge Hamelner Architektenpaar stand mit beiden Beinen fest auf der Erde und führte einen guten Kontakt zu den heimischen Handwerkermeistern.
Hella traf die Architekten in der früheren Werkstatt an. Das junge Paar stand in der Nähe des Fensters und war, bewaffnet mit Plänen, mit einem Handwerker in ein lebhaftes Gespräch vertieft. Dem ersten Anschein nach schienen sie ein ungleiches Paar zu sein. Bea Becker reichte ihrem Mann, Moritz Kerner, kaum bis zur Schulter. Trotzdem war sie es, wie Hella bald festgestellt hatte, die die Handwerker bei der Stange hielt und die Projekte vorantrieb, während er, der eher dem Typ Bodybuilder entsprach als einem kreativen Kopf, für die Entwürfe zuständig war. Sie ergänzten sich aufs Beste und machten ihre Arbeit mit einer ansteckenden Leidenschaft.
„Frau Reincke!“, rief Bea Becker und wandte sich mit einem herzlichen Lächeln um. „Darf ich Ihnen Dieter Freytag vorstellen, den Zimmermeister. Er hat damals für Ihre Schwester den Paddockstall gebaut.“
Der Mann in der schwarzen Zimmermannskluft war ein Hüne, ein wahrer Riese mit überlangen Armen und Beinen, der durch keine Stalltür kam, ohne den Kopf einzuziehen. Die langen braunen Haare trug er im Nacken zusammen gebunden, und in einem Ohrläppchen blinkte ein silberner Ohrstecker.
„Hella, ich freue mich“, dröhnte er und streckte seine Pranke aus. „Wie lange ist das her?“
Es hatte Zeiten gegeben, da war er ihr in seiner schlaksigen Unbeholfenheit wie eine junge Dogge vorgekommen und so lieb gewesen wie ein jüngerer Bruder. Dem Architektenpaar zugewandt, erklärte sie: „Wir kennen uns. Als Kinder sind wir gemeinsam im Hamelner Reiterverein geritten. Hast du noch mit Pferden zu tun, Dieter?“
Er grinste und entblößte eine nikotingelbe Zahnreihe. „In meinem Stall stehen zwei
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