Flammenpferd
Hella war zuletzt als junges Mädchen bei der Märzenbecherblüte gewesen. Eine Viertelstunde wollte sie für das Naturschauspiel gern erübrigen. Sie stellte den Kombi am Ende der langen Reihe parkender Wagen ab. Auf einem Holzschild waren die Hauptwanderwege skizziert. Hella warf nur einen flüchtigen Blick darauf. Sie hielt sich links und stieg einen steil ansteigenden Weg hinauf, der geradewegs in den Wald hinein führte. Nach wenigen Schritten stand sie mitten in einem Teppich aus Glockenblüten, die in der untergehenden Nachmittagssonne strahlend weiß leuchteten. In einer Nische neben dem Weg befand sich ein Informationsstand, dessen fünf Wandseiten auf den Außenflächen mit aufwendig gestalteten Schautafeln besetzt waren. Hella überflog einen der Texte, der Interessantes über den Schweineberg vermittelte. Als sie sich der nächsten Tafel mit Detail getreuen Pflanzenbildern zuwandte, fiel ihr Blick auf eine junge Joggerin, die in einem beachtlichen Tempo den steilen Weg herauf kam. Sie hielt den Kopf gesenkt, und der dichte Schopf verfilzter Haare nickte im Rhythmus ihrer flinken Schritte auf und ab.
„Hallo Jana! Hier läufst du also!“
Das Mädchen stoppte. Sie trug einen Rucksack und umklammerte mit beiden Händen die Schultergurte. Sie wirkte verdutzt, fing sich aber schnell. „Das ist meine Trainingsstrecke. Vom Hof bis hierher, dann einen Bogen durch den Wald und über den Waldlehrpfad und die Heisenküche zurück. Was machst du hier, Hella?“
„Ich wollte einen Blick auf die Blüten werfen, bevor alles vorbei ist. Wunderschön, nicht wahr?“
Das Mädchen schaute sich um. „Ach das! Ich muss weiter.“
„Willst du mit mir fahren, Jana?“
Das Mädchen starrte sie entgeistert an. „Ich sagte doch, das ist meine Trainingsstrecke.“
Hella verkniff sich ein Lächeln und hob entschuldigend die Hände. „Wofür trainierst du so eisern?“
Sie bekam keine Antwort. Jana trabte davon. Hella sah ihr nach, bis sie hinter einer Gruppe Spaziergänger aus dem Blickfeld geriet, und kehrte zum Wagen zurück.
Die schmale Straße führte noch ein kurzes Stück zwischen den Feldern hindurch und mündete in einen Buchenwald. Hella passierte das Hinweisschild zum Forsthaus Heisenküche, einem Waldgasthaus, das ein Stück oberhalb der Straße lag, und lenkte den Kombi an den Straßengraben heran, um einem entgegenkommenden Wagen Platz zu machen. Der Fahrer bedankte sich mit einem Handzeichen und fuhr dicht an ihrem Kombi vorbei. Die Straße blieb über die gesamte Strecke so schmal. Daran erinnerte Hella sich, und auch an die scharfe Linkskurve, die fünfhundert Meter hinter dem Wald zu erwarten war. Vorsichtig fuhr sie an die Biegung heran, zu ihrem Glück langsam genug. Beinahe wäre sie mit einem roten Jeep zusammen gestoßen. Erschrocken riss sie das Lenkrad nach rechts, trat auf die Bremse und kam knapp vor dem Graben zum Halten, in dem anderthalb Meter tiefer die Beeke plätscherte. Aus den Augenwinkeln erkannte sie den Fahrer, der ihrem Blick mit einem höhnischen Grinsen begegnete und mit Vollgas weiter rauschte. Sie war sicher, es war derselbe, der sie beim Ausritt vor dem Urlaub von der Straße gejagt hatte. Das Nummernschild hatte sie auch dieses Mal nicht lesen können und nicht mehr erkannt als schwarze Zeichen auf gelbem Grund.
Warte nur, Freundchen, dachte sie grimmig. Irgendwann erhältst auch du deine Strafe.
23
Der rote Jeep raste über die schmale Straße im Gröninger Feld, schlug einen riskanten Bogen um einen Mountainbiker und zwang einen entgegenkommenden Kleinbus zum Halten, ohne sich um dessen aufgebrachtes Hupen zu scheren. Kati sah ihm nach, bis er in Richtung Innenstadt abbog und außer Sicht geriet. Sie hatte ihren Lauf unterbrochen und, während sie das rechte Bein anwinkelte und zum Dehnen gegen einen glatten Buchenstamm stützte, den roten Jeep vom Waldrand aus bei seiner rasanten Fahrt durch das Tal beobachtet. Die Trageriemen drückten schmerzhaft auf ihre Schultern. Da sie sowieso eine Pause eingelegt hatte, konnte sie ebenso gut für eine Minute den Rucksack abnehmen. Sie schnallte die Abdeckung auf und schnüffelte prüfend. Der Geruch war schwach. Vorsichtig zog sie eine der beiden Glasflaschen heraus. Beim Anblick der randvollen Apfelsaftflasche spürte sie einen brennenden Durst, doch sie hütete sich, von dem Inhalt zu trinken. Gewohnheitsgemäß griff sie nach dem Feuerzeug um ihren Hals, bevor sie die Flasche wieder in den Rucksack steckte. Sie
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