Flammenpferd
hatte den Nachmittag frei und joggte im Augenblick vermutlich durch den Hamelner Stadtwald. Als Hella gleich darauf in Jeans und einem Wind dichten Fleecepullover zum Stall hinüber marschierte, kam ihr Evelin entgegen. Sonst immer wie aus dem Ei gepellt, wirkte sie verschwitzt, trug tiefrote Flecken auf den blassen Wangen, und die blonde Fönfrisur hatte sich im Chaos aufgelöst. Ärmel und Schulterpartie der blauen Reitjacke waren mit Lehm bedeckt, und auch die Reithose zierten verräterische Flecken. Zamira stand – noch gesattelt – am Anbindebalken und knabberte gelangweilt am Holz. Zumindest waren Pferd und Reiterin gemeinsam nach Hause gekommen.
Evelin hielt sich die Seite und schniefte. „Meine Rippen.“
„Was ist passiert?“, fragte Hella.
Evelin versuchte ein tapferes Grinsen. „Wenn ich wenigstens etwas Dramatisches zu erzählen hätte. Es war nur ein Radfahrer, der aus einem Seitenweg kam. Zamira hat einen Satz gerissen, und schon lag ich da. Der Radfahrer war pfiffig genug, sie festzuhalten. Sonst wäre sie womöglich bis auf den Pferdemarkt galoppiert.“
Die hektischen Flecken verblassten. Evelin sah nicht gut aus.
„Ich bringe dich ins Krankenhaus“, sagte Hella entschieden. „Du musst dich röntgen lassen.“
Fadista und Melody konnten warten. Evelin fügte sich und humpelte stockend, den Arm in die Seite gepresst, zu Nellis Kombi hinüber. Ihre mädchenhafte Erscheinung täuschte leicht über ihren Ehrgeiz hinweg. Sie wusste genau, was sie wollte. Und sie war eine passable Reiterin. Doch in letzter Zeit hatten sich die Probleme mit Zamira gehäuft. Hella beeilte sich, der Stute den Sattel abzunehmen, und führte sie zum Auslauf. Zamira war eine launische Diva in Gestalt eines hübschen Fliegenschimmels. Evelin verzieh ihr alles. Auch für diesen Sturz würde sie wieder alle Schuld bei sich suchen.
Hella steuerte den Kombi behutsam um die Kurven, und trotzdem zuckte Evelin zusammen, als Hella sanft beschleunigte. Der Parkplatz der Bausparkasse leerte sich, und eine endlose Autoschlange drängte auf die Bundesstraße. Sie kamen nur stockend voran. Hella warf ihrer Beifahrerin einen besorgten Blick zu. Evelin krümmte sich in den Sitz, und ihr Gesicht hatte eine grünliche Farbe angenommen. Sie suchte nach einer Erklärung. „Mir wächst die Arbeit über den Kopf, und ich bin zu wenig zum Reiten gekommen. Das nimmt Zamira schnell übel.“
„Mit Reiten ist erst einmal Schluss.“ Hella wusste, wovon sie sprach, seit sie sich selbst bei einem Sturz die Rippen geprellt hatte. „In den nächsten Tagen wirst du dich kaum rühren können.“
Evelin gab ein unterdrücktes Stöhnen von sich und versuchte eine andere Sitzposition. „Mein Chef wird begeistert sein. Und Zamira erst, wenn ich mich nicht um sie kümmern kann. Vielleicht sollte ich sie für eine Weile bei ihrer Züchterin in Beritt geben. Würdest du mir dafür Nellis Anhänger leihen? Mein Freund könnte fahren. Er hat einen Wagen mit Anhängerkupplung.“
Zum Reinckehof gehörte ein alter, aber stabiler Pferdetransporter, den Nelli vor ihrem Tod hatte überarbeiten lassen. Selbstverständlich konnte Evelin ihn ausleihen.
Auf dem Kastanienwall floss der Verkehr zügiger. Evelin hatte per Handy ihren Freund verständigt, der als Internist mit dem Krankenhaus an der Weser zusammen arbeitete. Er erwartete sie vor dem Haupteingang und half ihr fürsorglich aus dem Wagen.
Hella hatte wenig Lust, zum zweiten Mal innerhalb einer Stunde den Weg durch die Stadt zu nehmen, und beschloss, einen Bogen Richtung Norden zu schlagen und auf einer Nebenstrecke zum Reinckehof zurück zu kehren. Sie fuhr über die Holtenser Landstraße und bog, einem plötzlichen Einfall folgend, vor dem Ortsteil Holtensen zu einem Waldparkplatz ab. Das Gröninger Feld war – wie eine Halbinsel ins Meer – als offene Landschaft in den Hamelner Stadtwald eingebettet. Ein Spazierweg führt am Waldrand entlang um die Äcker und Wiesen herum, und durch das freie Tal zog sich, dem Lauf der Krummen Beeke folgend, die hier ihrem Namen widersprach und längst begradigt war, eine schmale öffentliche Straße. Wegen des hübschen Ausblicks und der Überschaubarkeit war das Gröninger Feld gleichermaßen beliebt bei Spaziergängern, Joggern und Hundebesitzern. Eine zusätzliche Attraktion gab es im Frühjahr. Wenn im Schweineberg die Märzenbecher blühten und der Waldboden dicht an dicht von einem weißen Blütenmeer überzogen war, kamen die Wanderer von weit her.
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