Flammenpferd
stieg, war er so liebenswürdig wie gewohnt.
Bevor der Wagen abfuhr, sah sie sich zum Haus um. Das Fenster ihres früheren Kinderzimmers war hell erleuchtet, und flüchtig erkannte sie dahinter eine schmale schattenhafte Gestalt.
25
„Gehen wir essen?“, fragte Julian, als sie das Krankenhaus verließen.
Über die nahe Weserbrücke rauschte der Abendverkehr. Als sie sich nach links wandten, um zum rückwärtig gelegenen Parkplatz zu gehen, überließ er ihr auf dem schmalen Fußweg den Vortritt. Aus den Krankenzimmern fielen eckige Lichtflecken auf das Pflaster, und die Schattenstreifen dazwischen verdeckten das Muster der grauen Klinkersteine.
Sie ließ sich Zeit mit der Antwort, bis sie den Daimler erreichten. „Ich würde dich gern einladen, Julian. Zum Dank für das Fahren und das geduldige Warten. Aber bitte nicht heute. Es kommt mir vor wie Mitternacht.“
„Wir haben sieben Uhr!“
Hella trat um den Daimler herum. „Ich bin todmüde. Heute wage ich mich nur noch an den Schreibtisch und gehe früh schlafen.“
Im Wagen betastete sie vorsichtig das Pflaster auf der Stirn. Mit den Fingerspitzen konnte sie die winzigen Stiche fühlen. Noch wirkte die Betäubung. Der junge Doktor hatte gewitzelt, sie könnte eine Ponyfrisur tragen, bis die Wunde verheilt war. Sie war sicher, dass er ihr die Erklärung mit der offenen Schranktür nicht glaubte. Der abschätzige Blick, mit dem er im Vorbeigehen Julian streifte, der auf dem Flur gewartet hatte, ließ ahnen, dass er trotz seiner Jugend einige unglaubwürdige Geschichten aufgetischt bekommen hatte.
„Der Arzt hat mich gemustert wie einen prügelnden Ehemann“, erklärte Julian, als hätte er ihre Gedanken gelesen.
Er ließ den Motor an. Im Halbdunkel konnte sie nicht erkennen, ob ihn der Verdacht des Arztes eher verärgerte oder amüsierte. Ihr wurde bewusst, wie fremd er ihr war. Noch immer ein Unbekannter, und mitsamt seinem höflichen Benehmen undurchschaubar. Ihr fiel ein, wie grob er mit Jana umgegangen war. Das Mädchen hatte Angst bekommen. Ob er zur Gewalt neigte? Unsinn, beruhigte sie sich, du siehst Gespenster. An diesem Montag war einfach zu viel geschehen: Evelins Sturz, die knappe Begegnung mit dem Jeep und Janas Angriff. Bei dem Gedanken an Evelin fiel ihr ein, dass sie vielleicht versucht hatte sich zu melden, und nahm das Handy aus der Jackentasche. Es war wie meistens ausgeschaltet. Wer etwas von ihr wollte, schickte eine Nachricht oder sprach auf das Band. Evelin hatte sich noch nicht gemeldet.
„Ich müsste kurz telefonieren“, sagte Hella.
„Natürlich!“ Julian sah lächelnd zur Seite, richtete seine Aufmerksamkeit gleich darauf wieder auf den Verkehr und lenkte den Wagen nach links in die Deisterstraße. Hella rief die Mobilnummer auf. Evelin war sofort dran.
„Wie geht es dir?“ , fragte Hella.
„Eine Rippe ist geprellt oder angeknackst und tut teuflisch weh, als wäre es beides auf einmal. Aber wozu hat man einen Arzt zum Freund. Michael ist rührend besorgt um mich.“
Hella bot an, sich um Zamira zu kümmern.
„Danke Hella, es wäre nur noch für ein paar Tage.“ Evelin klang erleichtert. Sie hatte bereits bei der Züchterin angerufen und alles für den Beritt abgeklärt.
„Wann nehmen wir uns den Gewölbekeller vor?“, fragte Julian, als sie das Gespräch beendet hatte.
Sie überflog in Gedanken ihre Pläne für die nächsten Tage. „Wie wäre es mit morgen Abend? Wenn du es so lange aushältst?“
Er grinste, ohne den Blick von der Straße zu nehmen. „Ich werde mein Einbruchswerkzeug mitbringen.“
„Ich weiß nicht, was du dir von dem Keller versprichst. Er ist nur eine muffige Höhle unter dem Stall.“
„Jede Höhle hat ein Geheimnis. Man muss es nur finden.“
„Warten wir’s ab.“
Sie hatten die Bundesstraße verlassen. Hella schaltete das Handy aus und schob es in die Jackentasche. Erschöpft schloss sie die Augen. Offenbar hatte der Schlag mehr bewirkt als die Platzwunde. Als sie die Augen aufschlug, kam die rückwärtige Seite des Reinckehofs in Sicht. Sie blinzelte verwundert.
„Was ist das für ein Leuchten? Bei den Paddocks. Dort, hinter dem Kälberstall!“
„Welcher Kälberstall?“
„Das leere Gebäude neben dem Pensionsstall. Erinnerst du dich an unseren Rundgang? Unter dem Schleppdach dahinter lagern wir Heu und Stroh. Zum Teufel! Die Rundballen!“
Erschrocken beugte sie sich vor und starrte auf das Licht, das mit jedem Meter, den sie sich näherten, heller
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