Flammenzorn
» Ja. Da war ein Mann.« Er fummelte weiter an dem Staubbehälter herum. »Ein großer Mann. Seine Augen haben ausgesehen wie glühende Kohlen.«
»Wissen Sie, was er wollte?«
Der Geist richtete sich auf und rieb sich den Hinterkopf. »Nein. Ich habe mich bedeckt gehalten. Kunden, die erst nach Feierabend auftauchen, bringen nur Ärger.«
»Sind Sie hier unten ganz allein?«
»Hier bin nur ich. Ist nett und ruhig.« Er sah sich in dem Trümmerfeld um. »Jedenfalls bis vor Kurzem.«
Sie trat näher an ihn heran. »Warum sind Sie ganz allein? Warum sind Sie nicht
gegangen?«
Sein Blick erstarrte, und ein Hauch von Furcht zeigte sich in den ledrigen Gesichtszügen. »Ich habe Angst vor Fahrstühlen.« Damit wandte sich der Geist ab und verschmolz mit der Wand.
Anya schauderte und überlegte, ob der Mechaniker so gestorben war - bei einem Unfall in dem klapprigen Fahrstuhl.
Sie mochte keine Überschneidungen zwischen ihrem Alltagsjob und ihrer nächtlichen Arbeit. Sie hatte es gern, wenn sie ihre Aufträge in zwei verschiedenen Kästen in ihrem Kopf verstauen konnte, zwischen denen es keine Berührungspunkte gab. Aber das Kribbeln in ihren Fingerspitzen blieb, während sie mit ihrer Kamera immer wieder das auf sonderbare Weise schöne Bild am Boden erhellte - die Figur, die sie schon an drei anderen Tatorten gesehen hatte. Sie schwor sich, ihre Bedeutung zu entschlüsseln, auch wenn das bedeutete, die selbst gesteckte Grenze zu ihren nächtlichen Aktivitäten zu überschreiten.
KAPITEL DREI
In den Märchen, die Anya als Kind gelesen hatte, steckten die Hexen schreiende Kinder in den Ofen und aßen sie, ohne sich die Mühe zu machen, sie vorher zu häuten. In diesen Geschichten betrieben Hexen keine eigenen Konditoreien, die Hochzeitskuchen und andere, neue Gebäckstücke herstellten. Auch warben sie nicht damit, nur Biomehlsorten und Eier von freilaufenden Hühnern zu verwenden.
Als die Morgendämmerung den Horizont rot färbte, parkte Anya vor dem Wicked Confections, einer Konditorei inmitten einer Reihe dicht gedrängt stehender Geschäfte im Vorort Ferndale. So früh am Morgen stellte die Parkplatzsuche kein Problem dar; nur Lieferfahrzeuge standen mit angeschaltetem Standlicht am Straßenrand. Sie fütterte die Parkuhr und sah dann durch das Schaufenster, hinter dem eine Unmenge verschiedener Kuchen ausgestellt war. Seidenweich aussehende Kuchenglasuren, Zuckerblätter und Zuckergussranken schmückten das vielfältige Feingebäck, das auf verschiedenen Sockeln auf altmodischen Tortenplatten stand. Das Gebäckstück in der Mitte war mit einem detailliert gestalteten, alten, weißen Ford Thunderbird dekoriert. Sogar die Heckflossen waren erkennbar. An der Heckscheibe lehnte ein Miniaturschild mit der Aufschrift »Just Married«, und an der hinteren Stoßstange waren mit Lakritzfäden winzige Fruchtgummi-Dosen festgebunden. Marzipanbraut und Marzipanbräutigam saßen abreisebereit im Wagen. Die Braut winkte einem unsichtbaren Publikum zu wie eine Schönheitskönigin. Anyas Magen knurrte. Sie wusste, dass die Kuchen im Fenster lediglich aus Styropor und Zuckerglasur bestanden und nur als Schaufensterauslage dienten, aber ... verdammt, sie sahen wirklich zum Reinbeißen gut aus.
Als sie die Ladentür öffnete, klingelte über ihr ein Glöckchen. Drinnen gab es Ladentische mit Oberflächen aus rostfreiem Stahl. Dort lagen diverse Musterbücher, in denen die verschiedensten Kuchen abgebildet waren. Eine Vitrine hinter dem Tisch war vollgestopft mit Piroggen, Pączki, Pinwheel Pastries, allerlei anderem Kleingebäck und Keksen.
Katie kam mit mehlbestäubter Schürze aus dem Hinterzimmer. Eine Haube saß säuberlich auf ihrem Kopf, und nicht eine blonde Strähne lugte darunter hervor. »Anya. Willkommen in meiner kulinarischen Lasterhöhle.« Sie machte eine überschwängliche Geste, bei der Mehl aus ihrer Schürze rieselte und die ihr beinahe die Haube vom Kopf riss. »Kann ich dir ein Frühstück anbieten?«
Anya setzte sich grinsend auf einen der rot gepolsterten Retrobarhocker vor dem Tresen. »Ich brauche Schokolade. Gib's mir.«
Katie zog einen weißen Karton unter dem Tisch hervor. »Extra für dich.« Sie nahm den Deckel ab, unter dem ein wildes Durcheinander aus Marzipanmenschen zum Vorschein kam, die alle irgendwie verdreht und verbogen waren. »Sie sind nicht gut gelungen. Die Herren wurden alle in dunkle Schokolade getaucht, die Bräute in weiße Schokolade.«
Anya blickte prüfend in den Karton
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