Flandry 2: Höllenzirkus
Gehirn vollends erwacht war. Im Augenblick empfand er nur ein wortloses Verlangen nach dem Flachwasser. Er assoziierte es mit Essen, Ausgelassenheit und … und …
Tage- und nächtelang schneite es durch. Wirrdas schwammen zum Festland, weil sie jagen mussten, unregelmäßig, aber beharrlich. Immer öfter kamen sie an die Oberfläche. Wasser fühlte sich zunehmend unangenehmer in den Kiemen an, Luft brannte immer weniger. Nach einer Weile bemerkte Rrinn aktiv an seinem Pelz die sinnliche Flüssigkeit, das Brüllen und Anschwellen großer, gekräuselter, schaumgekrönter grauer Wellen, pfeifenden Wind und salzige Gischt.
Der Schneefall hörte auf. Wirrdas tauchten in eine wasserklare Nacht auf, in der sich der Ozean selbst zurückgezogen hatte. Über ihnen funkelten unzählige Sterne. Rrinn trieb auf dem Rücken und blickte nach oben. Die Namen der hellsten Sterne fielen ihm wieder ein. Auch sein eigener. Er entsann sich, dass er, als er kürzlich an einer Insel mit zwei Bergspitzen vorbeigeschwommen war – und so war es –, nun eine Richtung einschlagen musste, bei der Ssarro Der Endlos Wacht Hält immer über seiner rechten Schulter blieb. Dann würde er sich den Jagdgründen mit größerer Präzision nähern, als die Strömung erlaubte. Er ging auf den neuen Kurs, und der Rest folgte ihm; da wusste er wieder, dass er der Anführer war.
Der Morgen brach funkelnd an, doch das helle Licht störte das Volk nicht mehr. In Rrinns Kielwasser drangen Wirrdas eifrig vor. Gegen Abend sahen sie die ersten Anzeichen von Land: am Horizont einen schwachen Dunst, im Wasser treibende Blätter und Holzstücke, reiches Leben. In der Nacht wüteten sie unersättlich unter einer Million winziger, phosphoreszierender Leiber; Licht tropfte aus ihren Mundwinkeln und verwirbelte bei jeder Welle. Am nächsten Morgen hörten sie das Brandungsrauschen.
Rrinn erkannte das Riff und die Kabbelung und schwamm auf das Vorgebirge zu, wo Wirrdas immer an Land gingen. Am späten Nachmittag erreichte das Rudel sein Ziel.
Im Norden und Süden tobten Schneestürme und würden am Ende den halben Globus bedecken. Das Wasser, das fest aufs Land fiel, kehrte nicht in den Ozean zurück; unter dem enormen Gewicht des späteren Schnees zusammengedrückt, bildete es Gletscher. Um die Pole gefroren die Meere und boten dem Schnee noch mehr Platz, um sich zu sammeln. In den gemäßigten Breiten sank der Meeresspiegel täglich, und am Ende lagen die Festlandsockel unter freiem Himmel.
Rrinn würde all das später wissen. Im Augenblick erfreute er sich an dem Gefühl, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Brecher krachten brüllend an die niedrigen Felsen und liefen schäumend zurück; hier und da wurden Eisschollen umhergeworfen. Dennoch war das Schwimmen nicht sonderlich gefährlich. Die Wintergezeiten waren schwach. Und vor ihnen erhob sich unter einem funkelnden Himmel das Schelf, zerklüftet und vielfarbig. Schnee bedeckte seine Hänge, und Eis glitzerte, wo Teiche gewesen waren. Mannigfaltige Gerüche hingen in der Luft, nach Salz, nach Jod, nach sauberer Zersetzung und frischem Wachstum, und sie war scharf und windig und kühl, kühl.
Tag für Tag fraß sich das Rudel Fett an, bis der Speck die Kerben zwischen Rippen und Muskeln ausfüllte. Das zurückweichende Wasser hatte eine reiche Schicht aus toten Pflanzen und Tieren zurückgelassen, in der Saprophytensamen des letzten Jahres, Salz und Alkohol im Gewebe, um nicht einzufrieren, zu sprießen begannen und bald die Felsen mit ockerfarbenen und purpurnen Flecken überzogen. Meerestiere schwärmten zwischen ihnen umher; Flugwesen wirbelten zu Hunderttausenden kreischend über ihren Köpfen, und Großwild zog aus dem Binnenland heran, um hier zu fressen. Rrinns Männer fertigten Handäxte, um die Reißzähne zu ersetzen; Frauen flochten Lassos aus Därmen und Sehnen. Tiere wurden gefangen und zerlegt.
Dennoch hörten die Wirrdas auf, nur Jäger zu sein. Sie sangen leise Liedfetzen, vollführten einzelne Tanzschritte und sprachen abgehackt. Manches Individuum saß alleine einfach nur da, stundenlang, und starrte in den Sonnenuntergang und zu den Sternen hinauf, während aus den Tiefen die Erinnerung aufstieg. Und eines Tages traf Rrinn, der ein Whiteout durchquerte, eine Frau, die sich immer in seiner Nähe gehalten hatte. Sie blieben in der windgepeitschten Leere stehen, während zu ihren Füßen die See donnerte, und blickten sich in die Augen. Sie war geschmeidig und hübsch anzusehen.
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