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Flaschendrehen furioso: Roman (German Edition)

Flaschendrehen furioso: Roman (German Edition)

Titel: Flaschendrehen furioso: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Friedmann
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Türöffnungen.
    Sie vergaß sich in Zeit und Raum, schritt als Schülerin Palladios mit ihm durch die Straßen der aufstrebenden Stadt, um mit ihm den Fortschritt an den vielen Baustellen zu begutachten. Zusammen atmeten sie den Staub der frisch gehauenen Steine ein, gemeinsam lauschten sie dem Takt der Steinmeißel und Hämmer, wurden von den Handwerkern begrüßt. Wie gerne hätte sie damals gelebt, als noch in ganz anderen Maßstäben gemessen wurde. Als noch nicht alles standardisiert, vorgefertigt und rationalisiert war. Die Menschen, und nicht die Maschinen, Spuren hinterließen.
    Sie streichelte mit ihrer Hand bedächtig über den geriffelten, metergroßen Kalkblock eines Sockelgeschosses. Trockener Staub blieb an ihren Fingern kleben. Sie musste diese Steine fühlen, die Jahrhunderte ertasten. Dann sah sie zurück auf den Palazzo.
    Überall waren dreigeteilte Proportionen zu bewundern. Die Drei! Die große magische Zahl, das erste Gebot der Architektur, ach was, fast aller Gestaltung. Besonders an der Front war es so wunderbar zur Schau gestellt worden. Ob es die drei erhabenen, auf Säulen lastenden, Steinbogen im Erdgeschoss waren oder die drei fürstlichen Fenster im Geschoss darüber oder die horizontale Unterteilung der Hauptfassade in drei große ruhende Felder. Wie hatte es ihnen ihr schrulliger Professor damals ein ums andere Mal vorgebetet, wobei er immer sein wildes silbernes Künstlerhaar absichtlich, mit dem Habitus des Genies, geschüttelt hatte?
    »Gerade Zahlen brechen in der Mitte jede Fassade auseinander. Vergessen Sie das nie!«
    Zum Beweis hatte er zwei Fenster nebeneinander gezeichnet und zog durch die Mitte einen Strich. Dann hatte er darunter noch eine Tür gesetzt und war jedes Mal beinahe zusammengebrochen vor Lachen über die »Gesichtsfassade«.
    Anna und Carlo hatte sie in der ersten Boutique abgegeben. Man wollte sich später wieder treffen. Zur Abwechslung genoss Elli es, allein zu sein. Gab es denn eine aufregendere Art, einen neuen Ort oder eine Stadt zu erkunden, als allein, zu Fuß? Sicher, wenn der nette Herr Doktor sich aufgedrängt hätte, dann hätte das wieder eine ganz andere, eine romantische Note gehabt.
    Aber auch so, nur mit sich, fand es Elli unheimlich romantisch. Wenn man allein war, konnte man die zahllosen Dinge viel eher erspüren, die um einen herum geschahen.
    Mit ihren geschulten Architektenaugen offenbarten sich ihr Dinge, die vielen anderen verborgen blieben. Für die Architektin Elli Mangold intonierten die Häuser, Paläste und Plätze eine Symphonie aus nie gehörten Rhythmen, Takten und Tönen. Elli ergötzte sich an diesem Kosmos der Ideen. Ein fast vergessenes Hochgefühl kam in ihr auf.
    Proportionen, sie richtig zu setzen, das war die große Kunst. So simpel war das und doch so hart. Das ausgeglichene Spiel zwischen den maßgeblichen Kräften. Das galt für alles und jeden. In München, in Brescia, in New York genauso wie im hintersten Winkel der Welt. Jede Kultur konnte man daran messen, wie viel sie von diesem Spiel der Kräfte verstand. Von der Architektur hatte sie es gelernt. Aber es galt schlicht und einfach für alles im Leben. Das Leben per se war Chaos. Es verlangte, ja schrie förmlich nach Ordnung. Herrschte allerdings zu viel Ordnung, machte sich sofort das andere breit, die Monotonie, die tödlich sein konnte. Zwischen diesen beiden Polen, dem Chaos und der Monotonie, wurde die Kunst lebendig und das Leben zur Kunst. Und hier, in diesem kleinen Brescia, hatte man das Wissen darüber über viele Generationen hinweg mit höchster Freude in Stein gemeißelt.
    Sie war erleichtert und dankbar, wieder allein zu sein. Sie war frei und ganz bei sich. Sie wurde allmählich wieder zu Elli. Elli, die das Leben liebte und um die Liebe der anderen bangte.
    Auf einmal, völlig unvorbereitet, umgab sie dieses unglaubliche Parfüm. Es war das gleiche, das der Doktor getragen hatte, als er an ihr vorbeigeschwebt war und ihr damit unwissentlich den Kopf verdreht hatte. Noch nie zuvor hatte sie es gerochen, nirgendwo, nur heute, gleich zweimal an einem Tag. War er eben etwa an ihr vorbeigelaufen, ohne dass sie es gemerkt hatte? Sie sah sich suchend um, aber da war niemand. Nicht einmal erahnen konnte sie, wo der Duft herkam. Je weniger sie verstand, desto leichter fiel es ihren Sinnen, mit ihr zu spielen. Eben noch stark wie eine Löwin, drehte sie sich jetzt schwindelnd im Kreis wie ein fallender Ikarus.
    Sie legte ihre Hand an eine große

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