Flaschendrehen: Roman (German Edition)
sich bei mir unter.
»Sag mal, stört es dich denn gar nicht, dass Clemens immer so eingespannt ist? Auf den musst du wirklich aufpassen, nicht dass der irgendwann umkippt, mal abgesehen davon, dass ihr euch so wenig außerhalb der Arbeit sehen könnt.«
Natürlich störte es mich, ich machte mir Sorgen um ihn, aber auch um unsere Beziehung, denn wie sollte die sich zwischen Tür und Angel weiterentwickeln? Wir mussten unbedingt mal wieder raus aus der Tretmühle, gemeinsam Zeit verbringen, Urlaub machen, bloß wann?
Hinter der Nationalgalerie fand ich auf Anhieb einen Parkplatz. Wir gingen mit meinem Presseausweis an der langen Schlange durch den zweiten Eingang. Ich mochte den schnörkellosen Betonbau mit seinen klaren Strukturen und Glasfenstern. Wir waren die Ersten, gingen die Treppen runter und stöberten im Museumsshop nach ungewöhnlichen Büchern und Mitbringseln. Wir standen gerade mit unseren Errungenschaften an der Kasse, als der Rest der Meute eintraf. Ben hatte ich seit meiner Einweihungsparty nicht mehr gesehen, worüber ich nicht sonderlich traurig war, ich wollte seine Gründe gar nicht so genau wissen, die dazu geführt hatten, dass er es nicht über sich bringen konnte, mich zu küssen, und lieber das Spiel abgebrochen hatte. Wenn ich es mir richtig überlegte, hatte ich sogar allen Grund, beleidigt zu sein.
Rudi fiel mir um den Hals und bemerkte, ich würde viel zu abgearbeitet aussehen; Ben umarmte mich flüchtig und ohne mich wirklich zu berühren; Liv küsste mich ohne den Hauch von Herzlichkeit auf die Wangen. So ähnlich mussten sich Judasküsse anfühlen. Vollzählig gingen wir in die Ausstellungsräume, Melancholie – Genie und Wahnsinn in der Kunst lautete der vollständige Titel. Kurz nach dem Eingang blickte uns Dürers Melencolia entgegen, verschiedene Textauszüge von Robert Burtons Die Anatomie der Melancholie waren an die Wand gepinselt, eine Black Box verschiedener Künstler aufgestellt, und ein zeitgenössisches Exponat des Künstlers Ron Muek, Der dicke Mann , füllte die Ecke eines Raums. Langsam schlenderten wir weiter, vorbei an Munch- und Picasso-Bildern und lasen nebenher verschiedene Gryphius-Gedichte. Ben schwebte im siebten Himmel und passte in diese Ausstellung so gut hinein, dass er bestimmt am Ende fragte, ob er im Museum einziehen dürfe.
Rudi ging dicht neben Leila her und quetschte sie nach ihrem Superfreund Jakob aus und ob er sie denn auch verdient habe und anständig behandele. So wie Rudi Leila ansah, überlegte ich, ob Rudi nicht doch Leila gemeint hatte, als er mir von seiner heimlichen großen Liebe gebeichtet hatte. Neben Edward Hoppers Kino in New York blieb ich länger stehen, um das Bild genauer zu betrachten. Ben sah mich eine Weile schweigend an, als ob er etwas sagen oder fragen wollte, ließ es aber bleiben. Liv, leider schön wie immer, fiel eine halb leere Flasche auf, Symbol für eine positive oder negative Lebenseinstellung, je nach Auge des Betrachters. Liv wollte natürlich keinen Exkurs darüber anstellen, ob die Flasche halb voll oder halb leer war, sondern zeigte demonstrativ auf sie, sah mich herausfordernd an und sagte: »Die lassen wir aber schön hier stehen, nicht damit wieder jemand auf die Idee kommt, pubertäre Spielchen zu veranstalten!«
Offensichtlich hatte sie die Flaschendrehen-Aktion weder vergessen noch verdaut, und wem sie die Schuld dafür gab, war eindeutig, natürlich mir. Neu war die offene, direkte und aggressive Art, mit der sie mich anfeindete. Bisher war sie subtiler mit gut gesetzten Spitzen vorgegangen, doch seit der Party schien sie aus ihrer Abneigung mir gegenüber kein Hehl mehr zu machen. Voller Freude sah ich unseren künftigen Treffen entgegen, die gute, ausgelassene Stimmung unter Freundinnen versprach. Bestimmt mussten bald getrennte Treffen koordiniert werden, damit wir den anderen nicht die Laune vermiesten.
Ich wollte nicht wissen, wie oft Liv verflucht hatte, dass Ben und Rudi beste Freunde waren, denn solange das der Fall war, wurde sie mich nicht los.
Seit ich wusste, wie kompliziert Ben sein konnte, und vor allem seit ich mit Clemens glücklich war, tat Liv mir nur noch Leid, was ich aber beides nicht sagen konnte. Meine Versuche, besonders nett zu sein, empfand sie als Provokation, was ich ihr nicht verübeln konnte.
»Weißt du, als was du dich verkleiden wirst auf Clemens’ Party?«, fragte Leila Rudi, der auch eingeladen war.
Rudi bekam leuchtende Augen, anscheinend hatte er im
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