Flashback
die Brust weh – er konnte Val unmöglich einholen.
Der Alte trat ans Geländer und schaute hinab auf das Erdgeschoss der früher hell erleuchteten Einkaufspassage. Vor den schmuddeligen Scheiben der ehemaligen Schaufenster türmten sich Müllsäcke, und es stank erbärmlich. Wenn nicht die dreckverkrusteten, teilweise gekippten Dachfenster gewesen wären, wäre in den Raum weder Luft noch Licht gedrungen.
»Mein Gott, mein Gott«, flüsterte Leonard. Bestimmt war Val davongerannt, um seine Pistole zu holen. Er hatte vor, seinem Vater draußen aufzulauern. Ob er zu Fuß heimkam oder mit dem Auto, Nick Bottom war ein leichtes Ziel.
Als Leonard fast zurück in der Wabe war, hörte er dumpfe Schläge und zersplitterndes Glas. O Gott, Val ist was passiert! Er lief wieder hinaus ins Zwischengeschoss, doch niemand war zu sehen. Alles wirkte normal. Leonard hätte gern auf jemanden gewartet, der ihm die Ursache des Geräuschs erklären konnte, aber der Schmerz in seiner Brust wurde immer stärker.
Nach Luft schnappend kehrte Leonard in Nick Bottoms Wabe zurück, schob die leeren Schubladen beiseite und setzte sich aufs Bett. Es tat so weh, dass er Angst hatte, in Ohnmacht zu fallen.
Doch er mühte sich wieder hoch und torkelte zum Schreibtisch, wo der Stapel von Mappen lag.
Val hatte alle unnötigen Alltagsdinge aus seinen Taschen geleert – Taschenmesser, Notizbuch, Zettel –, um Platz für die Magazine und Patronen zu schaffen. Auf dem Schreibtisch fand Leonard auch das Handy seiner Tochter, das Val in der Eile vergessen hatte. Mit bebenden Händen sank er zurück aufs Bett und startete das Telefon, dann klickte er auf die privaten Text- und Filmdateien.
Die Anzeige forderte das Passwort mit fünf Buchstaben.
Leonard erinnerte sich daran, wie seine elfenhafte Tochter ihm, dem Shakespeareforscher, erklärt hatte, warum sie sich in einen Mann mit dem lächerlichen Namen Nick Bottom verliebt hatte. Unbeholfen tippte er die Buchstabenfolge T-r-a-u-m ein.
Der Zugang wurde erteilt. Zuerst öffnete Leonard die Filmdateien, doch es handelte sich nicht um ein Bildtagebuch seiner Tochter. Menschen, die Leonard nicht kannte, blickten in eine Kamera, die offensichtlich von wesentlich höherer Qualität war als die in Daras Telefon, und redeten über ihren Konsum von Flashback. Die Filmdateien waren riesig, doch sosehr er auch darin herumsprang, er stieß immer nur auf Männer und Frauen, die in die Kamera sprachen. Dara kam nicht ins Bild, und Leonard hatte nicht die geringste Ahnung, warum sich dieses Zeug auf ihrem Telefon befand.
Während er sich mit einer Hand die schmerzende Brust rieb, schloss er die Filmdateien und rief die Textdateien auf. Auch diese waren geschützt, doch nach mehreren Versuchen erriet Leonard das Passwort: Kildare . So hatte ihr Wellensittich geheißen, als sie acht Jahre alt war. Damit hatte er das private Tagebuch gefunden, das seine Tochter in ihrem letzten halben Lebensjahr geführt hatte.
Er las und klickte die täglichen Einträge immer hastiger durch, bis er zum letzten gelangte, der einen Tag vor ihrem Tod entstanden war.
»Mein Gott, mein Gott.« Angst und Verblüffung erfüllten seine Stimme.
Damit änderte sich alles. Damit wurden die vielen Seiten aus dem Geschworenenbericht, in denen Nick des Mordes beschuldigt wurde, zu einem traurigen Witz.
Er musste unbedingt mit Nick telefonieren, auch wenn die Polizei den Anruf zurückverfolgen konnte. Er musste Val finden, bevor der eine Dummheit beging. Er musste …
Plötzlich wurde der Schmerz in Leonards Brust fast unerträglich, viel stärker als das gewohnte krampfartige Ziehen, dann dehnte er sich allmählich zu einem Mantel der Dunkelheit aus, der zuerst über ihm flatterte wie eine schwarze Fledermaus und sich dann immer enger um ihn legte, bis er nicht mehr sehen und atmen konnte.
Ich darf nicht das Bewusstsein verlieren. Ich muss es Nick sagen. Ich muss es Val sagen. Ich muss es allen sagen …
Er spürte nicht mehr, wie er zusammenbrach.
1.15
SANTA ANA UND IN DER LUFT
FREITAG, 24. SEPTEMBER
Der John Wayne Airport lag außerhalb des Gebiets, auf dem sechs oder sieben Tage lang die Kämpfe um Los Angeles getobt hatten, doch auf dem San Diego Freeway 405, der das Flughafengelände gleich hinter den Start- und Landebahnen kreuzte, herrschte reger Verkehr von Nationalgarde und Militär. Das kleine Flugfeld in Orange County wurde jedoch nicht für militärische Zwecke genutzt, sondern nur von den üblichen Fracht- und
Weitere Kostenlose Bücher