Flashback
Nine-eleven wirklich zugegangen war. Leonard, der damals an der University of Colorado in Boulder unterrichtete – irgendwelchen Blödsinn wie ›die Etymologie von John Keats’ Arsch – und nach dem Tod seiner dritten Frau Vals Mutter allein großzog, war gerade auf einer Literaturtagung in Yale gewesen und verfolgte im Aufenthaltsraum zusammen mit anderen Konferenzteilnehmern die Ereignisse, nachdem die Märtyrerflugzeuge in das Pentagon und das World Trade Center gerast waren …
Val unterbrach ihn. Wen interessierte dieser alte Quark? Sollte er sich vielleicht als Nächstes darüber aufregen, dass Stonewall Jackson in Gettysburg gestorben war? Das war doch alles schon ewig her. Aus und vorbei, Mann.
»Stonewall Jackson ist schon vor der Schlacht von Gettysburg gestorben«, war Leonards pedantische Antwort.
Auf jeden Fall, schoss Val zurück, war dieser reaktionäre Anti-Kalifat-Müll schon tot, bevor Leonard senil wurde. Wie alle amerikanischen Kids hatte Val seit dem Kindergarten den Koran studiert, und der Islam war die Religion des Friedens – das wusste doch jeder Vollidiot. Warum flennte Leonard beim Anblick der Moschee der Märtyrer der heiligen Stätte in New York? Was wollte er denn, fragte Val seinen Großvater. Sollten sie vielleicht die Gebeine des Kriegstreibers Greg Dubbya Bush nach New York überführen und ihm dort eine Gruft bauen?
»George W. Bush«, antwortete Leonard mit trauriger Stimme.
Daraufhin war Val abgezogen und hatte sich die ganze Nacht mit der Gang rumgetrieben. Danach wurde dieses Gespräch nicht fortgeführt.
Doch als er jetzt den New Yorker Bürgermeister und den Vizepräsidenten beobachtete, die im Fernsehen dem finster dreinblickenden, bärtigen Oberimam in den Arsch krochen, fühlte sich Val beklommen aus Gründen, die er nicht genau benennen konnte. Vielleicht hatte es etwas mit den vielen Hadschis auf dem Markt zu tun, die die Besucher abzockten. Oder vielleicht war es genauso blöd wie diese Haufen von Stiefeln und Uniformen, die verhökert wurden, als wären sie tatsächlich irgendwelchen amerikanischen Soldaten vom Leib gerissen worden, die auf einem chinesischen Schlachtfeld mit unaussprechlichem Namen gestorben waren.
Val schüttelte den Kopf, um die unerfreulichen Gedanken zu verscheuchen. Unauffällig näherte er sich dem Waffenstand – deswegen waren sie schließlich hergekommen –, um aus einigem Abstand Coynes Kaufversuch zu beobachten.
Coyne war der Älteste und, abgesehen von Cruncher, der Größte von ihnen. Sein Bart war noch eher dünn, aber wenigstens konnte er ein paar richtige dunkle Stoppeln vorweisen. Seine NICC konnte er zwar nicht frisieren, aber er hatte eine Militärausmusterungskarte, die ihn als volljährig auswies. Sie hatte ursprünglich Brad gehört und war von Brads Kumpeln bei der Aryan Brotherhood manipuliert worden. Natürlich musste Coyne die Waffen bar bezahlen, wenn er mit dem gefälschten Ausweis durchkam …, aber Bargeld hatte er ja anscheinend genug.
Der Hadschi am Waffenstand hatte Toohey und die anderen Jungs weggescheucht. Die Minidrohnen vom Heimatschutz schwebten keine hundert Meter über ihnen. Jetzt starrte der bärtige Iraner Coyne misstrauisch an. Doch die Ausmusterungskarte wurde vom Scanner akzeptiert. Als der mürrische Hadschi eine NICC verlangte, zuckte Coyne lächelnd die Achseln und sagte,
dass er sie nicht eingesteckt habe – nur die Armeeentlassungskarte und einen Haufen Bargeld. Er sei Jäger und wolle sich ein paar neue Waffen besorgen, bevor in Idaho die Jagdsaison vorbei war.
Dieser Spruch war so iditotisch, dass Val am Nachbartisch das Gesicht abwenden musste, wobei er so tat, als würde er sich für Virtual-Reality-Brillen aus Brasilien interessieren. Er hatte Mühe, sich ein Lachen zu verkneifen.
Der Hadschi lachte nicht. Val beobachtete ihn in dem Spiegel, in dem sich die Brillenkäufer bewundern konnten. Offenbar nahm er Coyne seinen Quatsch nicht ab. Trotzdem scheuchte er ihn auch nicht einfach weg. Coyne durfte die Waffen in Augenschein nehmen.
Der Anführer hatte auf der Old Plaza zwei weitere Knarren für die Gang gekauft, aber diese Waffen waren Müll: ein .38-Revolver, der noch aus Raymond Chandlers Tagen stammte – Val las gerne, wenn er es auch nicht zugab –, und eine neue indonesische Plastikpistole mit Klappgriff, die biologisch abbaubare .228-Patronen abfeuerte. Das Ding war irgendwann in der glücklichen Hadschivergangenheit gebaut worden, um es an Bord eines
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