Flavia de Luce 5 - Schlussakkord für einen Mord: Roman (German Edition)
Harlekinfahne.
Was für ein Heidenspaß, dachte ich, ein Puzzleturnier!
Ein Pfiff ertönte, die Fahnen senkten sich jäh, und die Spieler rissen die Schachteln auf und fingen wie die Verrückten an zu sortieren. Schon fügten einige die ersten Randteile aneinander.
Ein Richter mit gepuderter Perücke und einem Kneifer auf der Nase stolzierte zwischen den Tischen umher und blieb hinter jedem Spieler kurz stehen, spähte ihm über die Schulter und machte sich in einem großen alten Kassenbuch Notizen.
Als ich nähertrat, um die Puzzles zu betrachten (auf denen entweder ein Heiliger mit Heiligenschein zu sehen war oder ein vom Mond beschienener Felsen, der aus einem mitternächtlichen Meer ragte), wurde ich von einer dunklen Gestalt in geistlichen Gewändern (konnte das der Vikar sein?) weggescheucht. Er machte mir mit unmissverständlichen Gesten klar, dass jede Störung sofort von dem Mann mit der Schaufel bestraft würde.
Ich fuhr herum und sah mich dem Schaufelmann Auge in Auge gegenüber – Miss Tanty!
Ich schreckte aus dem Schlaf hoch und setzte mich mit klopfendem Herzen auf.
Hätte ich es nicht schon vorher gewusst, wäre mir spätes-tens jetzt klar gewesen, wie und warum Mr. Collicutt umgebracht worden war.
Die Uhr zeigte zehn vor fünf. Zu spät, um sich noch mal umzudrehen.
Ich sprang auf den kalten Fußboden, spritzte mir aus dem Waschkrug kaltes Wasser auf Hände und Gesicht und stieg in das gestärkte Rüschenkleid, das mir Mrs. Mullet hingelegt hatte – so wie ein Lokführer in den Führerstand seiner Lokomotive steigt.
Esmeraldas gekochtes Ei und ein paar über dem Bunsenbrenner geröstete Scheiben Brot gaben ein zünftiges Frühstück ab.
Aus einer Schublade nahm ich einen Korken und hielt ihn über die Flamme, bis er rußig wurde. Als er wieder abgekühlt war, fuhr ich mir damit über die Augenlider, besonders über die unteren, dann rieb ich den Ruß gründlich ein, bis meine Augenpartie eine realistische lilagraue Färbung annahm.
Als i-Tüpfelchen drehte ich mir die Haare zu einem verknäuelten Rattennest auf und sprühte mir mit einem Zerstäuber kaltes Wasser auf die Stirn.
Dann betrachtete ich mich im Spiegel.
Mit den Eiresten im Mundwinkel war die Wirkung äußerst überzeugend.
Als ich ins Esszimmer wankte und mich benommen umsah, saßen Vater, Daffy und Feely bereits am Tisch.
Ich setzte mich schweigend, ließ die Schultern hängen und legte die Hände in den Schoß.
»Herrje!«, rief Feely. »Wie siehst du denn aus?«
Vater und Daffy blickten von ihren trockenen Toastscheiben auf.
»T-t-tut mir leid, aber ihr müsst mich wohl entschuldigen«, brachte ich mühsam hervor. »Ich habe kaum geschlafen. Wahrscheinlich hab ich was Falsches gegessen.«
Ich drückte die Hand vor den Mund und blies die Wangen auf.
»Iss ein paar Bissen Toast«, sagte Vater. »Dann gehst du sofort wieder hoch ins Bett. Ich sehe nach dir, wenn wir wieder zu Hause sind.«
»Danke … aber ich hab keinen Hunger. Außerdem ist Schlaf die beste Medizin.« Das sagte Mrs. Mullet in solchen Fällen immer.
Wieder oben, zog ich das Osterkleid aus, Rock und Pullover an und tauschte die Lackschühchen gegen Turnschuhe.
Kurz darauf kletterte ich geräuschlos aus dem Fenster der Ahnengalerie.
Über Nacht hatte es geregnet, Gladys war pitschnass. Ich schüttelte sie kräftig, sodass die kalten Tautropfen im Mondlicht wie ein Juwelenschauer von ihr fielen.
Bis zur Kirche waren es keine zehn Minuten.
26
Z arter Nebel stieg vom Fluss hinter der Kirche auf, schwebte wie grauer Rauch zwischen den Gräbern und dämpfte das Plätschern des Wassers.
Ein Friedhof im Licht des Märzmondes müsste eigentlich jedem das Herz in die Hose rutschen lassen, aber ich hatte kein bisschen Angst.
Schließlich war ich nicht zum ersten Mal hier.
Ich schlug mir mit den Fäusten auf die Brust und atmete die nasskalte Morgenluft tief ein – sie schmeckte nach feuchter Erde, nassem Gras und altem Stein, mit einem leichten Nachgeschmack von welken Blumen.
Jetzt konnte ich verstehen, warum Pfarrer ihren Beruf liebten.
Da die Damen vom Altardienst bald eintreffen würden, musste ich mich beeilen. Wenn ich Glück hatte, blieb mir eine Stunde, allerhöchstens anderthalb, ehe sie mit den Armen voller Osterlilien anrückten.
So lange würde ich für mein Vorhaben natürlich nicht brauchen. Mein Traum hatte die letzten Puzzleteilchen an ihren Platz gerückt. Davor hatte ich zwar schon sämtliche Teilchen zusammengehabt, aber nicht
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